Menschliche Abgründe
Neue Short Stories von Kevin Barry
Kreation in der Krise, das ist in Irland auch die große Kunst der Short Story. Roddy Doyle wählt für seine Fortsetzungsgeschichten in der Metro Eireann und der Sammlung Typisch Irisch Humor und Happy Endings. Komisch wird es oft auch bei Kevin Barry, dessen neue Sammlung Dark Lies The Island die preisgekrönte Erzählung „Beer Trip to Llandudno“ enthält. Leichtigkeit und Witz gibt es in diesen Geschichten jedoch nur auf der Oberfläche. Düsternis, Verfall und menschliche Abgründe lauern immer und überall.
Die heile Welt besteht in den Erzählungen von Kevin Barry (42) nie wirklich lange. Wer voller Misstrauen in seine Welten eintaucht, der wartet förmlich auf die Enthüllung, auf das Bröckeln der Fassaden. „Dark Lies The Island“ heißt die titelgebende Geschichte dieser neuen Sammlung, und in der Düsternis liegt hier nicht nur ein kleines Eiland in der Clew Bay. Für den Rest der großen Inseln sieht es zwischen Sligo und Liverpool nicht viel besser aus. Egal, ob eine ‚glückliche’ Familie in South County Dublin, zwei kinderjagende Seniorinnen in Sligo, oder ein deprimierter Hotelbesitzer im Killary Harbour die Hauptfiguren sind – diese 13 Erzählungen steuern nicht selten in Richtung Katastrophe.
„Wo ist der Haken, was läuft da falsch?“ fragt sich der Leser sehr schnell, wenn er etwa die ersten Seiten von „Wifey Redux“ liest. Auch, weil Ich-Erzähler Hubby in diesem Fall früh wissen lässt, dass er das Ende dieser Episode in Handschellen erleben wird. Wer weiter liest, begleitet den Beamten der Dubliner Stadtverwaltung durch sein idyllisches Familienleben mit Frau Saoirse und Tochter Ellie („Heaven had come down and settled all about us“). Alles scheint hier perfekt und harmonisch, nur ein ironischer Unterton und eingeschobene Regieanweisungen (Beispiel: „Hear the brush and rattle of doom’s timpani drums“) lassen erahnen, dass Veränderungen und Probleme kommen werden. Die erreichen Hubby in Gestalt von Adan McAdam, der als Partner von Tochter Ellie zum ungeliebten Dauergast wird.
Ein großer Baumarkt, in dem der – inzwischen zum „Ex“ gewordene – Freund des heimischen Augapfels jobbt, wird zum Schauplatz des finalen Showdowns; der Leser irrt ihm aus der Perspektive des Vaters entgegen.
Abgründig und rabenschwarz auch der Humor in der preisgekrönten Erzählung „Beer Trip to Llandudno“. Der „Real Ale Club“, eine Gruppe männlicher Bier-Tester aus Liverpool, unternimmt einen Ausflug in das walisische Seebad. Vordergründig ist es zunächst eine Geschichte über Männer und Freundschaft, doch schnell schimmern tragische Elemente durch, in Person des Gruppenmitglieds Mo, der in Wales eine Ex aus besseren Zeiten wiedertrifft, und des Ich-Erzählers, der im UK eher traurige Jahre erlebt.
Zu dieser Geschichte inspirieren ließ sich Kevin Barry von seiner eigenen Zeit in Liverpool; dort lernte er nach eigenen Angaben viel über die Menschen und ihr Leben an der Mersey. „I write from the ear, primarily, and I do so in the belief that if you can capture the way people speak, you can capture their souls. The story is largely inspired by the time I spent living in Liverpool, and by the patterns of speech there, which are oddly familiar to a pair of Irish ears“, wurde Barry im April nach dem Gewinn des The Sunday Times EFG Private Bank Short Story Award 2012 zitiert. Ein langer Titel für einen ziemlich netten Inhalt: Die Auszeichnung ist mit einer Prämie von 30.000 britischen Pfund verbunden. Damit konnte sich Barry über den höchstdotierten Kurzgeschichten-Preis der Welt freuen.
Fjord Of Killary: In McDonaghs Spuren
„Beer Trip to Llandudno“ gehört zu den besten Erzählungen in Dark Lies The Island. Mit „Fjord Of Killary“und „Ernestine And Kit“ enthält die Sammlung mindestens zwei weitere herausragende Geschichten, die „Beer Trip“ sogar noch übertreffen.
Wer im Lauf der letzten Jahre am Killary Harbour war, könnte vermuten, an welchem Ort Kevin Barry seine Inspiration für das Schicksal des furchtbar frustrierten Hotelbesitzers gefunden hat, der seinen Alltag mit 287 Regentagen im Jahr, weißrussischen Billiglohnkräften und lokalen Säufern („nutjobs“) verbringt.
Das Erreichen des Traumziels Westküste wird hier zum Pyrrhus-Sieg, Unwetter und Sturmflut bringen apokalyptische Stunden heran. Zur Katastrophe laufen Abbas „Chiquita“ und Bryan Adams’ „Summer Of ’69“ über die Lautsprecher. Absurd – hier ist Barry nicht nur geographisch ganz schön nah an Martin McDonaghs Leenane-Trilogie.
Kevin Barrys Wahlheimat County Sligo glänzt als Schauplatz in der – abermals von rabenschwarzem Humor geprägten – Erzählung „Ernestine And Kit“.
Zwei kinderlose Seniorinnen in den Sechzigern machen in ihrem Toyota die Touristenattraktionen um Lough Gill unsicher. Der Neid auf junge Familien und die Empörung über den Verfall der Sitten (Zitat: „Drinking cider with fellas with earrings and tattoos. In by a pool table. In a dank old back room. Dank!“) lassen das Duo zu eiskalten Kidnapperinnen werden.
Wenn Kevin Barry seine Geschichten vor allem als guter Zuhörer findet – die realen Vorbilder dieser krassen Gestalten müssen besonders schräg gewesen sein.
Erzählungen wie diese erweisen den Mann aus Limerick als Meister der Tragikomik.
In der titelgebenden Story allerdings ist für Humor kein Platz. „Dark Lies The Island“ hat seinen Handlungsort in der Idylle von County Mayo. Für Hauptfigur Sara bietet die Küste von Clew Bay keinen geeigneten Rückzugsort. Die depressive junge Frau ist autoaggressiv, kommuniziert online in einem Forum über Selbstverletzungen und Suizid, ihre Eltern grüßen derweil per Handy-Nachricht aus Spanien und Italien, haben Irland wie andere Achtundsechziger längst den Rücken gekehrt. Passend, dass sich Revolver von den Beatles im HiFi-Schrank findet. Der Blick auf die Bucht reicht in der Dunkelheit bis Dorinish Island, das einst in Lennons Besitz war.
Drogen-Dealer, Alkoholiker und junge Terroristen stehen im Zentrum anderer Erzählungen, die wahlweise in der Republik Irland oder in Großbritannien angesiedelt sind. Zum Schluss des Bandes gibt es einen Abstecher nach Berlin, zu den Hipstern und Modedesignern zwischen Wedding und Prenzlauer Berg.
Es ist eine ziemlich kaputte Welt, die Kevin Barry in fesselnden Erzählungen heranzoomt.
Dark Lies The Island versammelt die besten Short Stories des Autors aus den letzten fünf Jahren. Ein halbes Jahrzehnt – das nennt Vielschreiber Barry in einem Interview mit dem Verband Booktrust einen guten Zeitraum, um genug Kurzgeschichten für eine Buchveröffentlichung zu sammeln.
Der ebenfalls preisgekrönte Debütroman des Autors könnte in Zukunft ein noch größeres Publikum erreichen. Offenbar gibt es Pläne für eine Verfilmung von City Of Bohane (2011), an einem Drehbuch wird gearbeitet.