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10. November 2012
stefan heuer
für satt.org
  Henning Chadde und Jörg Smotlacha (Hgg.): Buch oder Bier?
Henning Chadde und Jörg Smotlacha (Hgg.): Buch oder Bier? 172 Seiten, Paperback. Blaulicht-Verlag, Helmstedt 2012. 12,90 Euro
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Wer in den 1960er Jahren jung und an Musik interessiert war, sah sich mit einer Entscheidung religiösen Ausmaßes konfrontiert: Beatles oder Stones!? Während im darauffolgenden Jahrzehnt viele zwischen Bowie und Bolan schwankten, gab es in den 1980er Jahren einen Schnitt durch meinen Freundeskreis, der bei Robert Smiths Haaren eben das dranließ, was er bei Dave Gahan entfernt hatte.

Und heute? Musikalische Vorlieben gibt es selbstverständlich nach wie vor, aber niemand mehr muss sich im Zeitalter der im Freundeskreis kursierenden digitalen Sicherungskopie entscheiden, für welche Platte er sein Taschengeld ausgibt. Und auch auf anderen Gebieten des alltäglichen Lebens ist es nicht mehr notwendig oder sonderlich angesagt, sich zu entscheiden; ganz im Gegenteil, viele Vertreter der Menschheit feiern sich dafür, mehreres gleichzeitig tun zu können (multitaskingfähig zu sein). Meist sind dies so wichtige Dinge wie Telefonieren und sich dabei die Nägel lackieren oder „Ab ins Beet“-Glotzen und dabei Eis essen.

Selbstverständlich gibt es aber auch sinnvolle, erotisierende Duette. Der in dieser Hinsicht nicht zu schlagende Klassiker: Ein gutes Buch, genossen bei einer Flasche kühlen, nicht zu kalten, Biers.
Es kann daher kein Zufall sein, dass eben gerade diese beiden zeitlosen Lifestyle-Produkte durch ein magisches Band miteinander verbunden sind: dem des gemeinsamen Feiertags! Tatsächlich ist der 23. April nicht nur der Tag des Deutschen Bieres, sondern auch der Welttag des Buches.
In Hannover, der Stadt, in der das beste Hochdeutsch gesprochen wird, wird das Datum seit einigen Jahren mit einem großen Dichter-Wettstreit begangen, bei dem es jeweils die auf Zunge und Hirn brennende Frage zu klären gilt, wem er denn nun gehört, der Tag des 23. April: dem Geist, oder doch eher dem Geistigen.

Die 2012 im Blaulicht-Verlag erschienene, in Kooperation zwischen der (gerade im Bereich der jüngeren und regionalen Literatur engagierten) Buchhandlung Decius und langeleine.de (dem Online-Journal für Hannover) herausgegebene, Anthologie Buch oder Bier? vereint 33 Texte von 13 Autorinnen und Autoren, die alle während der letzten Jahre bei öffentlichen Veranstaltungen in Hannover vorgetragen wurden. Thematisch geht es in ihnen, wie könnte es anders sein, um Literatur und/oder Alkohol.

Nicht selten unterliegen die einzelnen Beiträge einer Anthologie qualitativen Schwankungen; so ist es auch hier. Die schwächeren Beiträge kranken oftmals daran, dass sie merklich für die Live-Performance auf einer Poetry Slam-Bühne verfasst wurden. Da geht es darum, auf den Punkt zu kommen, Lacher zu provozieren, um dem Publikum und/oder der Jury eine hohe Wertung zu entlocken und in die nächste Runde einzuziehen. Doch was auf der Bühne mit eindringlicher Stimme und passendem Gestus funktionieren mag, funktioniert nicht auch zwangsläufig im Buch. Drive erzeugende Binnenreime wie „demonstrieren“ und „vertikutieren“ sind der Bühne geschuldet und wirken in der Druckversion eher befremdlich und gewollt. Dennoch, wie gesagt: Vielleicht 5% Ausschuss, da hat man in jedem Erdbeerkorb mehr!

Die guten bzw. besten der zumeist zwischen 3 und 7 Seiten langen Texte sind sprachlich ansprechend gestaltet und weisen eine starke, nicht zu übersehende Tendenz zu gesellschafts- und zeitkritischen, politischen Aspekten auf.

Jan Egge Sedelies, Texter und Sänger der Elektro-Lyriker Beatpoeten und seit vielen Jahren mit eigenen Texten sowie als Moderator unterschiedlichster Veranstaltungen auf den Bühnen der Republik unterwegs, eröffnet den Band mit seinem „Schreibtischtäter“, einer brillant in Worte gefassten Vision, in der sich die Gesellschaft mittels gezielt unter das Volk gebrachter literarischer Sprengsätze zum Besseren wendet.

Die Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten thematisiert Peter Märtens in seiner Kurzgeschichte „Schöne Literatur“ und ruft darin eine Beklemmung hervor, die dem historischen Ereignis gerecht zu werden vermag. Beeindruckend.

Christian Friedrich Sölter ist mit seinem Live-Klassiker „Die Völkerschlacht von Linden“ (Stadtteil von Hannover) vertreten: Protagonist Otze sprengt mittels ausgesuchter Verbal-Delikatessen einen Schützenausmarsch.

 


Pauline Füg strickt aus einer Begegnung in der Bibliothek ein surreal anmutendes Spiel um Geben und Nehmen und Zeit- und Kopfverlust.
In einem Langgedicht wirft sie sich dem Ersten Detektiv Justus Jonas an den Hals, bietet sich ihm als Rocky Bitch an und bekommt gegen Ende dann doch Skrupel (vor allem, weil sie volljährig und er seit gut dreißig Jahren immer noch 16 ist).

Tobias Kunze legt sein Buch zur Seite, um mit einem nach Gerstensaft dürstenden Freund bis zur totalen Willenlosigkeit durch die Kneipen zu ziehen.

Daniel Terek schildert den letzten Abend des Legasthenikers Kurt und seines Nachbarn Norbert K., der sich als Schund-Literotiker in einer Züchtigungs-Manufaktur sämtliche Werke von Stephenie Meyer und Charlotte Roche vorlesen lässt, um seine Sprachvergewaltigungs-Phantasien ausleben zu können.

Und einfach nur schön, wie Dominik Bartels seinem türkischen Freund Tarek den korrekten Gebrauch der Artikel erklärt:

„Das Alter betrifft uns alle, deshalb ist es auch sächlich. Allerdings sind die Auswirkungen bei Männern und Frauen höchst unterschiedlich. Weiblich sind DIE Falten, DIE Zellulitis und DIE Krähenfüße. Bei uns Männern äußert sich das Alter dagegen anders. Da heißt es: DER Altersstarrsinn, DER Bierbauch und DER Haarausfall.“ Und zum Thema Verkehr: „DER Sex, DIE Migräne.“

Viele hervorragende Texte, unterhaltsam und handwerklich gekonnt.

In ihrem Vorwort empfehlen die Herausgeber Henning Chadde und Jörg Smotlacha, zur entspannten Lektüre eine Flasche Bier zu öffnen. Buch und Bier: Bei dieser Anthologie hat das prima funktioniert!