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12. Februar 2013
Dominik Irtenkauf
für satt.org
  Dietmar Dath, Kleine Polizei im Schnee. Erzählungen.
Dietmar Dath, Kleine Polizei im Schnee. Erzählungen. 280 Seiten, Leinen mit Lesebändchen. Verbrecher Verlag, Berlin 2012. 24,00 Euro
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Wie ein kleines Mädchen alles regelt! Dietmar Daths Kleine Polizei im Schnee

Dietmar Dath hat bereits in früheren Werken seine Theoriebeflissenheit bewiesen – sein Essay Maschinenwinter geht in diese Richtung, mehr noch der dicke Schinken Der Implex, der immer wieder von Weltanschaulichem durchzogen ist. Kleine Polizei im Schnee führt die Linie fort. Theorie wird hier jedoch nicht in aufgesetzten Exkursen dargereicht, sondern läuft als integraler Bestandteil der Erzählungen subkutan mit. Verdammt kurz sind manche, und streifen doch alles Relevante, was es in diesem eng gesteckten Rahmen zu sagen gibt. Dath folgt stellenweise keinem erkennbaren Handlungsfaden, und doch fügen sich die Sätze ineinander. Erfreulich, dass er nicht auf Teufel komm raus postmoderne Spielchen treiben muss. Es geht auch ohne eingeschaltete Bewusstseinsströme und Fernbedienungsschnipseltechnik.

„Eine blinde Millionenerbin in Basel liebte Science Fiction und beschäftigte in ihren beiden letzten Lebensjahren gleich zwei Bediente, die ihr vorlasen: Einen Kroaten und eine Äthiopierin. Vorgelesen wurde auf Englisch, auch wenn man im großen, kühlen Haus der Millionärin sonst deutsch sprach. Beide Lesehilfen hatten Anglistik studiert und gegen das harte Regiment, das bei der blinden Frau vorherrschte, nichts einzuwenden, weil es ihnen erlaubte, ihr bezahltes Leben mit einer Sorte Literatur zu verbringen, die sie schätzten.“ Beinahe ein märchenhafter Beginn für eine Geschichte, die auf 3,5 Buchseiten in unterhaltender, weil wenig verklausulierter Weise eine kleine Abhandlung über Science-Fiction-Literatur entwickelt. Ähnlich beginnen auch andere Stories, die Menschen im Beruf oder in der Beziehung präsentieren. „Doro Coppes Vorgeschichte“ ist die längste davon und bildet zudem den inhaltlichen Mittelpunkt des Bandes. Doro wächst mit einer brutalen, verständnislosen Mutter auf, die die Scheidung vom Vater noch nicht verkraftet hat. Immer wieder kommt sie im Buch vor, wird zur eigentlichen Protagonistin der Erzählungen. Zwischendrin erscheint viel anderes Personal, kurioses Personal, das Badeanzüge mit Farbänderung trägt oder als Monaco-Adel inkognito bis nach Berlin reist, um zu erfahren, wie es ist, einmal nicht Prinzessin zu sein.

Das Weltgeschehen und die Mechanismen, die mehr oder minder verdeckt darin ablaufen: das sind die Themen von „Doro Coppes Vorgeschichte“, und auch wenn nicht alle Geschichten in Kleine Polizei im Schnee auf Doro Coppe bezogen sein müssen, sind sie es auf eine Weise doch. Doro wird als zentrale Schaltstelle vorgestellt, dabei möchte sie eigentlich nur bildende Künstlerin werden. Sie besitzt einen ganz schönen Durchblick, der sich in zynischen und klugen Beobachtungen ausspricht, zum Beispiel in Bezug auf ihre Großeltern:

„[W]ie bei den Großeltern mütterlichseits, die manchmal am Wochenende kamen, um feuchte Küsse und noch feuchtere Torten mitzubringen. Von beidem musste Doro würgen, wenn sie allerdings gekotzt hätte, wäre ihre Mutter danach über sie hergefallen, samt Reißen an den Haaren, Tritten und Striemen auf den Armen vom Gürtel, also Verletzungen, die außer Doros Körper sogar die wichtigste Erziehungsregel der Mutter verletzten, nämlich dass draußen, auf dem Spielplatz und in der Stadt niemand sehen sollte, wie die Mutter mit ihrer Tochter verfuhr, wenn es etwas zu erklären, einzuschärfen oder abzustrafen gab.“

Dath überzeugt hier mit einer unsentimentalen Sprache, die einigen Autoren besonders in Krisengebieten, deren Erzählen vielleicht eine ähnliche Konstellation aufweist (indem es sich einer weiblichen Perspektive bedient), abgeht. Ein Beispiel: Eine Georgierin schreibt aus der Sicht eines Mädchens, das alles andere als abgebrüht wirkt, einen Roman über den georgisch-russischen Krieg im Jahr 2008 und räumt damit einen wichtigen Literaturpreis des Landes ab (den SABA-Preis für das beste literarische Debüt).
Warum aber ein Mädchen zur Hauptfigur machen, um über ein so hoch emotionales Thema wie einen Krieg gegen eine Weltmacht zu schreiben? Steckt hinter dieser Figurenwahl am Ende verbrämter Nationalismus? (Wie läse sich dieselbe Geschichte aus der Sicht eines – vielleicht gar russischen – Soldaten?) Dietmar Daths Kleine Polizei im Schnee hilft mir, den Witz in all dem Schrecken der Zeit wiederzufinden.

Dath schrieb immer auch journalistisch, was sich in den kleinen Erzählungen sehr schön niederschlägt: sie verbinden das enzyklopädische Wissen eines Popgeschulten mit dem Blick für das alltägliche Detail. Doro, das Mädchen, hat die entwaffnende Antwort auf jene Art von Literatur parat, die den Alltag schildern möchte und ihn doch nur dummdreist verklärt.
Wie häufig wird das 'Leben' als Kern und Inhalt von Literatur proklamiert! – und was kommt dabei heraus? Memoiren einer verlebten Existenz oder teenagerfeuchte Erlebnisberichte. Persönlich kann ich mich nur schlecht damit anfreunden. Aber so sehen die Buchregale aus: Unterhaltung ist gefragt, die Weltgeschichte in verdaulichen Prosastücken zum Beispiel oder die neuesten wahnwitzigen Begebenheiten des Mobilfunks im Kontext des großstädtischen Beziehungsgeflechts.
Bleibt die Flucht in die Theory Fiction, die zumindest dies Menscheln in der Literatur verhindern kann: Plots, die sich mit und um Theorie, Wissenschaft, Philosophie drehen, und in denen die Grenze zwischen Fiktion und Fakt zuweilen bewusst verwischt wird. Der Essay eignet sich hervorragend für diese Art Literatur – eine Literatur, die angesichts der Weltkatastrophen möglicherweise als einzige noch Interesse verdient, die es wert ist, dass man mit ihr die knapp bemessene Lebenszeit verbringt.

Natürlich gibt es auch positive Beispiele. Anders ließe sich nicht erklären, wieso Lebensnähe gern als Maßstab für außergewöhnlich gute Literatur ins Feld geführt wird.
Samuel Beckett beschrieb die Desillusion, existenzielle Dürftigkeit, Selbstbeschränkung; Henry Miller das Schnorcheln im Hedonismus und Streunen in Feuchtgebieten; Franz Kafka die Absurdität der modernen Welt, die Tücken der Bürokratie und so weiter.
Es beruhigt, in einer Rezension derartige Floskeln zu finden und sich einen Reim auf das vorgestellte Buch machen zu können. Ich würde aber frech behaupten, dass dies bei Dietmar Daths Literatur nicht interessiert. Noch das schlimmste Klischee, das die Leitlinie Leben zu konterkarieren scheint, ist ja tatsächlich nichts weiter als eine Übertreibung und Überhöhung des Lebens; umgekehrt kippt akkurate Beobachtung in Überzeichnung und Karikatur.
Was heißt das konkret auf Daths Erzählungen bezogen, mit ihren durch die Bank ehrlichen Figuren?
Ich führe als Beispiel eine Art der zwischengeschlechtlichen Beziehung an, die seit einigen Jahren vermehrt um sich greift: junge Frau und alter Mann oder aber junger Mann und alte Frau (der Unterschied zwischen „alt“ und „jung“ ist sicher relativ, wird jedoch von Außenstehenden meist treffsicher beurteilt). Man spricht darüber. Es kann so nicht sein. Ein kleines Mädchen würde fragen: Warum? Dann fangen die langen Erklärungen an, der Knoten in der Zunge, der trockene Gaumen.

„Von wegen Alter: Neunundzwanzig ist nicht so jung, zweiundsechzig nicht so alt, wenn man die Zeit damit verbracht hat, auf jemanden zu warten, jemanden zu suchen, und den oder die jetzt endlich finden darf. Außerdem wird es, dachte Marion, bald genug vorbei sein, da wollen wir wenigstens bestimmen, wie und wo es zu Ende geht.“

Doch Jörg ist unheilbar krank, in Japan schiebt sich immer wieder flüsternd der Tod zwischen ihn und Marion.

Konstallationen inszeniert Dath gern und oft, allerdings nicht als Begleiterscheinungen von Frühstückstischen, sondern um Weltanschauungen aufeinander prallen zu lassen. Dabei vermeidet er die ideologische Abstraktion und entwickelt Reibungsenergien lieber aus konkreten kommunikativen Situationen. Daneben arbeitet Dath auch mit hyperbolischen Wendungen, was der vorigen Beobachtung vielleicht entgegensteht, ja, in manchen der kurzen Prosastücke verrät er ein Faible für Science-Fiction:

„Das Jahr Zweitausenddreißig wird ruhiger als die fünf Jahre vorher. Am Vormittag meines sechzigsten Geburtstags gebe ich im Klima- und Zivilrechtsturm am Frankfurter Hauptbahnhof zwei Identitäten ab, die ich nicht mehr brauchen kann, weil es einen Mann in meinem Alter doch dann langsam schlaucht, alle vierzehn Monate Mutter zu werden und sich gleichzeitig um drei vegane Gaststätten im Westend zu kümmern, die sich nicht entscheiden können, ob sie Kunstwerke oder politische Treffpunkte sein wollen.“

Dath erwähnt Christian Kracht in einer kurzen Story, in manchen der Stücke finden sich leichte Parallelen zum Schweizer Literaten. Eine neue Art von Science-Fiction zeichnet sich hier ab: die Zukunft wird anhand eines deutlich veränderten Alltags durchgespielt – die ganze uns heute schon umgebende Technik darf nicht übersehen werden –, jedoch ohne explodierende Sterne oder Raumschiff-Schlachten. Auch finden sich nicht unbedingt Computerchips in den Hirnen der Protagonisten.
Man kann heute eben schlecht euphorisch literarisch schreiben, weil das eher zu Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts passt, zum anfänglichen Fortschrittsoptimismus der frühen Industrialisierung, dem längst der Katzenjammer des 20./21. Jahrhunderts gefolgt ist, markiert von einer Katastrophenserie, die spätestens mit dem Brand der Hindenburg beginnt und mit der Explosion der Challenger, dem Absturz der Concorde oder der Havarie von Fukushima noch nicht zu Ende ist. Dath versucht es trotzdem, probiert eine postmodern aufgeklärte Abenteuerliteratur. Aber man sollte sich von dieser Vokabel nicht täuschen lassen. Es geht nicht in exotische Fernbereiche unserer Welt oder gar zum Mittelpunkt der Erde – das Abenteuer findet direkt nebenan statt. Daths Story „Tröstliche Begegnung“ stellt sich so eher als eine leichte Irritation im Alltag des Jahres 2030 dar. Es ist diese wahrnehmungsschulende, eine kleine Dosis versteckten Realismus’ bergende, Fantasie, die Kleine Polizei im Schnee auszeichnet.