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17. Juni 2013
stefan heuer
für satt.org
  Urs Böke, Eine Hinrichtung irgendwo
Urs Böke, Eine Hinrichtung irgendwo. Gedichte. 32 Seiten, Handsatz, handgebunden, Kartonumschlag. edition footura black, Itzehoe 2012. 15,00 Euro
(50 nummerierte Exemplare)

Urs Böke, Land ohne Verfassung
Urs Böke, Land ohne Verfassung. Gedichte. 32 Seiten, Handsatz, handgebunden, Kartonumschlag. edition footura black, Itzehoe 2013. 15,00 Euro
(50 nummerierte Exemplare)

Zu beziehen über die
Homepage des Autors:
» www.ratriot.de


Es gibt Paare, die gehören einfach zusammen, der eine ist ohne den anderen schlicht und ergreifend nicht denkbar. Hat man den einen im Kopf, denkt man automatisch auch an den anderen: bei Miss Marple und Mr. Stringer ist das so, ebenso bei Cheech und Chong, Spirou und Fantasio, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir und Stephan Derrick und Harry Klein.

Paarbildung folgt, so sagt der Volksmund, den widersprüchlichen Grundsätzen, dass sich entweder a) Gegensätze anziehen oder aber b) sich gleich und gleich gerne gesellt. Als ich vor kurzem Eine Hinrichtung irgendwo, den neuen Gedichtband von Urs Böke in die Hände bekam, war ich mir nicht sicher, welchem dieser beiden Grundsätze ich dies Buch zu verdanken hätte. Meine Überraschung lag vor allem darin begründet, dass es in der edition footura black des Itzehoer Künstlers Karl-Friedrich Hacker erschienen ist, denn bis dato hatte ich die beiden künstlerisch nicht in Zusammenhang gebracht. Auf den ersten Blick erschien es mir, als greife hier die Theorie der sich anziehenden Gegensätze, sind Böke und Hacker doch für recht unterschiedliche Dinge bekannt: Auf der einen Seite Urs Böke, ein dem Social Beat entstammender und mit entsprechender Bio- und Bibliografie ausgestatteter Autor aus Essen, Herausgeber der inzwischen eingestellten und durch die MAULhURE beerbten Literaturzeitschrift Ratriot (die ihr Erscheinungsbild vor allem den seitenfüllenden Bilder-Collagen verdankte, die in der Regel abgerissene Gliedmaßen, entstellte Gesichter, Nacktheit und Krieg zeigten und somit nichts für Leute mit schwachem Magen oder 'seriösen' Kunstansprüchen waren), Verfasser von vier eigenständigen Gedichtbänden, an zahlreichen Kollaborationen beteiligt, kritischer hard-mouth an vielen Fronten – und auf der anderen Seite Karl-Friedrich Hacker, Mail-Artist (mit seinem bereits bis zur Ausgabe 70 gereiften A4-Assembling „el mail tao“), passionierter und filigraner Linolschnitzer und -drucker und als solcher Illustrator zahlreicher Künstlerbücher, die (oftmals in Zusammenarbeit mit Theo Breuer) in Hackers edition bauwagen erschienen/erscheinen. Urs Böke und Karl-Friedrich Hacker, zwei ambitionierte, seit vielen Jahren konzentriert an ihrem Werk arbeitende Künstler, die nun mit Eine Hinrichtung irgendwo, dem bislang achten Band der footura black-Lyrikreihe, gemeinsame Sache gemacht und eine mehr als ansehnliche Schnittmenge gefunden haben. Hacker kredenzt dem um einige Jahre jüngeren Autor einen von ästhetischem Gespür und handwerklichem Können geprägten Rahmen, wie er nicht besser zu Bökes Gedichten passen könnte: 32 handgebundene und -gesetzte Seiten zwischen einem aus schlichtem grauen Karton bestehenden Einband, in einer auf 50 nummerierte Exemplare limitierten Ausgabe – eine mehr als hochwertige Ausstattung, die einen sowohl optischen als auch haptischen Genuss bietet, und in die sich die neuen Gedichte von Urs Böke konsequent einfügen.

Worüber ich mich bei der Lektüre von Bökes Gedichten am meisten freue, ist die Tatsache, dass sie Buch um Buch tatsächlich immer besser werden (was man nicht von jedem Dichter sagen kann), stärker im Bild, im Ausdruck, dass sie immer mehr an Form und (auch inhaltlicher) Fülle gewinnen, dass er die Bierflaschen aus seinen 90er-Jahre-Gedichten immer noch auftauchen lässt, heute jedoch in der Lage zu sein scheint, Verzweifelungen und Zweifeln und Ängsten eine große Portion Kampfesmut, Ironie und Würde entgegenzusetzen und eine Zartheit zuzulassen, die ihn dazu veranlasst, die Gedichtes dieses Bandes gar als das zu benennen, was sie, ohne Wenn und Aber, sind: Liebesgedichte.

MISS & FOLGE

Die Orte an denen ich ohne dich war
waren nicht anders als die Orte an denen
ich versuchte mit dir zu sein

Eine Atlantikwallwelle im Sommer
ein Pilzsammlerwald tief im Osten
ein Geschützturm mitten im Leben

Die Orte die ich kenne kanntest du nie
was du nicht kanntest verbarg ich im Bier
Nächte voller Orte ohne Ziel und ohne Straßen
Nächte voller Worte ohne Ziel und ohne wir

Eine Betäubungsmaschinerie ohne Laufzahl
eine Thekenhockervergangenheit ohne Erfolge
eine überschrittene Demarkationslinie ohne UN

Die Orte an denen ich ohne dich war
waren nicht anders als die Orte an denen
wir versuchen gemeinsam zu sein

Als Tim Pope 1987 mit The Cure das Video zu „Why Can’t I Be You?“ gedreht hatte, sagte er in einem Interview: „This is it! The video I’ve always wanted to make. The Cure dancing – I can’t believe seeing this. They’re finished!“ Nun, erledigt oder gar fertig waren der tanzende Robert und die anderen Bandmitglieder keinesfalls, ganz im Gegenteil möchte man meinen, nahmen sie doch nur zwei Jahre nach „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ das beeindruckende Disintegration-Album auf. Und auch Böke ist noch lange nicht erledigt oder gar fertig, vielmehr ist von ihm noch Einiges zu erwarten – wenn auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, kein Videoclip, der ihn als tanzenden Käfer zeigt.

Nachtrag: Die digitale Tinte ist noch nicht getrocknet, da überrascht mich mein Briefkasten bereits mit einem weiteren Gedichtband – wieder von Urs Böke, wieder in der edition footura black von Karl-Friedrich Hacker erschienen, gleiche Aufmachung, gleiche Limitierung. Und so als hätte Böke mich gehört bzw. auf meine Rezension zu seinen Liebesgedichten reagiert (was zeitlich natürlich nicht möglich ist), haut er mir jetzt Gedichte um die Augen, welche die Liebe in (vorerst) weite Ferne rücken lassen. Land ohne Verfassung, so der Titel des neuen Bandes, zeigt einen äußerst kämpferischen, politischen, bis zur Schmerzgrenze aggressiven Autor, der zu einem Rundumschlag gegen jeden ausholt, der es verdient hat: Kriegstreiber und Rüstungsmagnaten, behäbig wiehernde Amtsschimmel, Hartz IV-Befürworter („[...] Ein Hartz IV-Bezieher / benötigt pro Tag / für Nahrung / 4 Euro plus ein paar Cent // Ein deutscher Polizeihund / benötigt pro Tag / für Nahrung / 6 Euro und ein paar Cent // Aber der / arbeitet ja auch“), chilenischen Rotwein trinkende und dabei Sting hörende Gutmenschen, politische und religiöse Fanatiker, Reformer und ihre zweifelhaften Reformen, knüppelnde Polizisten, Großindustrielle mit Nazi- Biografie.

DIE TAGE SIND BLEIERN WIE
EIN LEBEN OHNE EHRGEIZ

Irgendwann fängt dann alles wieder von
vorne an knapp am Andreasgraben vorbei
hinke ich als letztes Aufgebot in Büros an
deren Schreibtischen Korrupte hocken Leute

Die ihr Geld mit meiner Nutzlosigkeit schneller
verdienen als du diese Zeilen liest und überhaupt:
Was hängst du noch hier in Wort 46 fest wie
ein Hummer im Kochtopf dein Gesicht ist so

Farbig wie die zerschossene Mimik resignierter
Anarchisten jedenfalls worauf ich hinaus will:
Es bringt nichts nach Überlegenheit zu suchen
die Korrupten sind schneller es ist fahrlässig die
Leiter nach oben zu nehmen hol dir lieber einen
Becher voll mit Sandfleckenfieber und trink ihn

Leer in einem Zug der ins Reservat fährt für
verbotene Gedanken niemand wird die Gleise unter-
höhlen das ist nicht nötig ich weiß ja auch nicht

Wann sie sich erhängen an ihren Krawatten aber:
Es kommt auf irgendwelche Formulare an
und auf ihre Unterschriften auf diesen.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass man sich akut keine Gedanken machen muss, aber grundsätzlich würde wohl jeder Psychologe davon abraten, Böke ein Messer in die Hand zu drücken – aber muss ja auch nicht, seine Texte sind scharf genug.