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9. Juli 2013 | Meinolf Reul für satt.org |
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„träumen / tun“.
Mara Genschel radikalisiert sich. 12 Texte enthält die zweite Folge ihres kleinauflagigen, je 50 Exemplare zählenden, Fortsetzungswerks Referenzfläche, in dem sie erkundet, wie weit ein Text destabilisiert werden kann, um am Ende doch immer noch als Text dazustehen. In der 2# treibt sie ihre Forschung weiter voran, das ist spannend, auch mit Bangheit (wo führt das hin?), zu verfolgen und wirft einige Fragen auf – nicht an die Autorin, sondern an die Form: Wie definiert sich ein Text? Was ist ein Vers? „ERHABENES für G. Falkner“ ist so etwas wie ein Tacet-Stück, sehr schlau. Es geht über zwei Seiten, die Seiten 16/17. Da das Heft insgesamt 32 Seiten umfasst, steht es also zentral, sicher nicht von ungefähr. Korrespondierend zu Titel/Zueignung auf der linken Seite links oben steht auf der rechten Seite rechts unten: „(entnehmbar)“, das als Lesehinweis verstanden werden kann, als Art Regie- oder Spielanweisung (die ja auch meist in Klammern gesetzt sind). Diese verschwiegene Berührung mit dem Theater wird vom Text – und es wäre zu diskutieren, ob es sich bei „ERHABENES“ nicht eigentlich, präziser, um ein Gedicht handelt – voll eingelöst, insofern als die beiden es konstituierenden Verse inszeniert sind. Und als Verse können sie mit gleichem Recht bezeichnet werden wie die versifizierten Längen- und Kürzezeichen in „Fisches Nachtgesang“ (1905) von Christian Morgenstern. Genschel geht gegenüber Morgenstern allerdings noch einen Schritt weiter; verwendete dieser wenigstens noch Schriftzeichen für die Notation der Stummheit, klebt Genschel zwei Streifen Tesafilm, waagerecht aufgebracht, jeweils auf die Mitte der Seite. Diese Tesafilmstreifen sind längs unregelmäßig gefaltet – die Falten bilden etwas Erhabenes, über das man mit dem Finger fahren kann. Das theatrale Gedicht ist aber auch ein ikonisches lyrisches Bild, denn die Erhabenheit der Klebstreifen kann – über diese ihre materiale Eigenschaft hinaus – durchaus als (ironischer) Ausdruck der titelgebenden Empfindung gelesen werden, weil sie, wiederum ironisch: im schmucklosen, niederen Stil der arte povera, an einen Meeressaum erinnern, oder an die Linie des Horizonts – Grenzen, hinter denen das Unendliche liegt. Das heißt aber, dass nicht nur „Fisches Nachtgesang“, ein doch vergleichsweise harmloses Gedicht, sondern auch Giacomo Leopardis abgründiges Idyll „L’Infinito“ (1816), potentiell oder tatsächlich, den Echoraum des Genschel’schen Gedichts bildet, das als Joke abzutun grundverkehrt wäre. Ungeachtet seiner provozierenden, beinahe nihilistischen, Anmutung partizipiert „ERHABENES“ an der klassisch-romantischen Tradition, wie ja auch in anderen Texten Wörter wie „Vögelein“ und „Beerlein“ oder die Anspielung auf den Loreley-Felsen in „File_Loreley“ eher auf die Romantik weisen als auf die Epoche des Computers – dies gilt übrigens auch für die Leseranrede im zweiten der Texte: „Lieber Leser! // Dies war das Gedicht. / Des Weiteren folgen: [...]“ Das Wort „GEEST“ im erwähnten „File_Loreley“ stiftet den Zusammenhang zu folgendem Text: GEEST – GEEST – GEEST – GEEST [Rhein] [ich] [Heinrich] Der Referenzpunkt in der 'wirklichen Welt' ist offenbar abermals der Rhein auf Höhe des Loreley-Felsens. Der Name Heinrich ruft natürlich Heinrich Heine auf (als Autor des Gedichts „Die Lorelei“), er ist aber auch, rein textimmanent betrachtet, ein aus den zusammengezogenen Wörtern „Rhein“ und „ich“ gebildetes Anagramm. Der Text ist als Planskizze eines Landschaftausschnitts angelegt. Jeder Anflug von Rheinromantik bleibt (natürlich) ausgespart. Heißt es bei Heine: „Die Luft ist kühl und es dunkelt, / und ruhig fließt der Rhein[;]“, bleibt bei Genschel nur noch ein quasi-mathematisches „[Rhein]“ übrig – sein Fließen, das getriebene Silber seiner von Wind und Strömung aufgeschäumten Wasser, muss sich der Leser hinzudenken. Ähnlich verhält es sich mit dem viermaligen „GEEST“. Das Wort bezeichnet hochgelegenes, trockenes (Küsten-)land, eigentlich in Norddeutschland. Auch hier wieder knochige Nüchternheit im Vergleich zur Vers-Malerei Heines: „der Gipfel des Berges funkelt / im Abendsonnenschein[.]“, die in ihrer bodenlosen Untertreibung – bieten Rhein und Loreley etwa keinen erhabenen Anblick?! – ironisch und witzig wirkt. Ironie und Witz müssen aber erschlossen werden, sie geben sich nicht gleich zu erkennen. Mara Genschel hat mit „GEEST“ ein dezidiert unpoetisches visuelles Landschaftsgedicht geschrieben, vielleicht auch ein Anti-Gedicht ist, wahrscheinlicher aber ein Anti-Landschaftsgedichte-Gedicht. Dem technischen Blick auf die Natur in „GEEST“ entspricht das mehrfache Zitieren des Computers in einigen der Texte der Referenzfläche, und zwar weniger als Schreib-, denn als Speichergerät: „Files_“, „in_fileform [14,5 KB]“, „File_Loreley“, „Jagdfile“, „[9,57 KB]“. Vielleicht gehört auch das in Anführungszeichen gesetzte „Rattern D /Lüfte“ in diese Reihe. Die Suchmaschine führt bei Eingabe von „ratternde Lüfte“ auf zahlreiche Belegstellen für „ratternde Lüfter“ von Personal Computern. Andererseits ist „File“, deutsch ausgesprochen, nah an „Filet“. Das lässt an die „fett durchspeckten Scheiben“ und die „Sechshundert Gramm Gehacktes“ aus Tonbrand Schlaf denken, Genschels Debüt (2008). Zu erwähnen auch der 8-teilige Zyklus „Pferd“, permutativ, dialektal, maulfaul, und ein unbetitelter Text, der seinen Zeichenbestand auf zwei Seiten so arrangiert, dass ein aleatorisches Moment hineinkommt, insofern nämlich nicht eindeutig zu entscheiden ist, 'wo es losgeht'. Erstmals verarbeitet Genschel auch einen – reizenden! – Fremdtext, der zum Schluss zitiert sei: „und die die dürren Beerlein des verjüngten Akademismus aus unseren weggeworfenen Sträußen von gestern sammeln. [...]“ – Möglich, dass er in einem anderen Exemplar anders zugeschnitten ist, anders lautet. Jedes Heft ist ein Unikat. » referenzflaeche.wordpress.com
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