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26. November 2013 | Karl Piberhofer für satt.org |
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Was ein Gedicht alles kann. Der Lyrik-Taschenkalender 2014Nein, man steht nicht „wie der Ochs vorm Berg“, wenn man Gedichte liest.
Dabei kann man nur staunen, was ein Gedicht alles kann. Wie darin Sprache zur Sprache gebracht wird. Wie darin mit Sprache Sprachgrenzen verschoben werden oder – wie es in diesem Lyrik-Taschenkalender für das Jahr 2014 an einer Stelle heißt: „Gedichte sind Strömungsformen, die weiter reichen als Sprachgrenzen.“ Allerdings finden sich Sprachwunder, die Gedichte hervorbringen können, selten in einer solchen Dichte wie im vorliegenden Taschenkalender. Unbeschreibbar und ohnegleichen: „Tragik“ von Selma Meerbaum-Eisinger. Ja, es ist ein Kalender: Für jede Woche findet sich ein Gedicht samt Kommentar.
Das beginnt gleich mit der ersten Kalenderwoche. Man kann es durchaus programmatisch lesen, wenn Henning Ziebritzki den Kommentar zu dem von ihm ausgewählten, präzisen Schlaflosigkeitsgedicht „In der Frühe“ (Eduard Mörike) so einleitet: „Die Selbstreflexion ist so hauchfein, so messerscharf wie die Sprache.“
Und dieses Mehr bietet der Lyrik-Taschenkalender im Überfluss. Man findet Gedichte, die kompakt und gewichtig wie Skulpturen wirken (Inge Müller), die textuelle Körper sind und Vexierbild, bei dem die inwendige Ecke nach außen umspringt und umgekehrt, („the beautiful is perhaps the first uniform (...)“ / Simone Kornappel). Man landet „am grab“ der Mutter und folgt mit der Zahl der Buchstaben der erstaunlich wenigen Worte, die Urs Allemann dafür braucht, in die Tiefe nationaler Mentalitäten. „Wir fuhren achtspurig in Paris ein“ (Björn Kuhligk) – das Gefühl, das diese erste Zeile eines Liebesgedichts evoziert, das bleibt. Das bleibt wie: „Die Augen ... Sie zünden übers Meer entfernte Seelen an / Und Herzen / denen sich kein Eyß vergleichen kann“, diese unvergleichlichen Zeilen aus dem 17. Jahrhundert, die Nico Bleutge auf- und so einleuchtend dargetan hat, ebenso wie: „das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.“ (Wolfgang Hilbig). Welch starke Entdeckung: „Wenn der lahme Weber träumt, er webe“ (Clemens Brentano), „eines der kunstvollsten und formvollendetsten Gedichte, die es gibt“, (Gerhard Falkner), dessen literarische Qualität sich aus der Sublimation unerträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse speist, die wenige Jahre nach Entstehung des Gedichts im Weberaufstand 1844 münden. Seine Schwester Bettina von Arnim, die nach seinem Tod Clemens Brentano's Frühlingskranz herausgegeben hat, wird denn auch verdächtigt, den Aufstand angestiftet zu haben, wie ich, neugierig geworden, bei einer kurzen Recherche erfahre. Der Kalender bietet zahlreiche verblüffende Entdeckungen und lässt unvermutet „poetische Korrespondenzen“ aufscheinen, die sich festhaken, weiterwirken. „Mit den schweren Basiswörtern romantischer Poesie“, „Tod, Himmel, Nacht, Herz“ (Michael Braun), gelingt Bianca Dörings Gedicht „Wandlungen“ ganz ohne Klischee – „ich bin erwacht voll Atem und Gesang.“ „Die Wellen meiner bunten Räusche sind verdampft[.]“, so leitet Hugo Balls Freund Hans Leybold – vorgestellt von Eckhard Faul – sein „Ende“ ein: „In mein Gehirn hat eine maßlos große Faust sich eingekrampft.“
„Menschen trinken in der Schenke ... ewig leuchtende Getränke, ewig aneinander lehnend“ (Ernst Blass) – versinkt dieses bleibende Bild nicht in der Vergangenheit angesichts der heutigen Kommunikationsverlagerung ins Internetcafé, den „downloadshop“ (Ron Winkler)? Wie ein Manifest aufs ganze Leben: „was brauchst du?“ (Friederike Mayröcker) – das Herzstück vielleicht dieses Vademecums: „Das Gedicht wirkt so einfach, es könnte fast von einem Kind gesprochen sein.“ Nein! Sage ich zu dieser Interpretation im Kommentar von Silke Scheuermann. Ja, „es ist weise.“ Ja, es ist „einfach“, weil hier die Weisheit einer Dichterin zu uns spricht, die sich das Empfinden des Kindes bewahrt hat. Paul Scheerbart: „Mein Herz ist über und über voll!“ – „Ich weiß nicht, was ich Dir sagen soll“. Na ja, kaufen, lesen, verschenken: Dieser Kalender reicht weit, weit hinaus über 2014! |
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