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Manfred Wieninger, 223 oder Das Faustpfand. Roman. 250 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Residenz Verlag, St. Pölten 2012. 21,90 Euro » Verlag » amazon
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223 oder Das Faustpfand von Manfred Wieninger –
ein wichtiges, beeindruckendes, bedrückendes Buch
Ein neues Buch von Manfred Wieninger war mir angekündigt worden, von seinem Verlag (Residenz) und von ihm selbst. Na endlich, dachte ich, wurde ja auch Zeit! – was bei genauerem Hinsehen ein wenig unverschämt von mir war, denn in den vergangenen Jahren hatte Wieninger die Reihe um seinen „Diskont-Detektiv“ Marek Miert rasch und regelmäßig Episode um Episode erweitert, hatte ihn bei ungesundem Essen, und mit einem unzuverlässigen fahrbaren Untersatz versehen, in den krudesten Fällen ermitteln lassen. Jetzt also ein neuer Fall.
Nun ja, ließ mich der Autor wissen, ganz so sei es nicht. Genauer gesagt, tauche Marek Miert im neuen Buch nicht auf. Es sei ein der Vergangenheit geschuldetes, ernstes Buch.
Ich wusste, dass Wieninger neben den von mir geschätzten Miert-Krimis auch Gedichte, Feuilletons, Reisereportagen, vor allem aber wissenschaftliche, oftmals kulturhistorische, kritisch-politisch geprägte, Texte zur Geschichte seiner niederösterreichischen Heimatstadt St. Pölten schreibt.
Kurzum, ich merkte, dass Wieninger sein neues Buch am Herzen lag, und neugierig auf seine "andere" Seite, ließ ich es mir schicken.
Ich tat gut daran, mich auf ein ernstes Buch einzustellen. 223 oder Das Faustpfand schildert das Schicksal jüdischer Gefangener kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs.
Franz Winkler, 52-jähriger Revierinspektor, ist kein überzeugter Nazi. Der Partei ist er beigetreten, um seine Familie (Frau und Tochter) zu schützen und seine berufliche Position nicht zu gefährden. Im Januar 1945 wird er zum Dienst als stellvertretender Postenkommandant in Persenbeug, einer an der Donau gelegenen Kleinstadt, abgestellt. Mit den Durchhalteparolen und dem Gerede seines Vorgesetzten über den Endsieg und jüdisch-bolschewistische Elemente kann er nichts anfangen. Die Einheimischen beäugen ihn misstrauisch, man begegnet ihm feindselig.
In Persenbeug gibt es ein Lager für „volksdeutsche Umsiedler“: Mitglieder der Waffen-SS, versprengte oder stiftengegangene Gestapo-Leute und sonstige Partei-Bedienstete.
Als das Eintreffen einer größeren Anzahl jüdischer Gefangener angekündigt wird, erklärt Lagerführer Fricke, dass sich die „Arier“ auf keinen Fall die Unterkunft mit „jüdischem Ungeziefer“ teilen würden. Winkler beschließt, die Juden in drei leerstehenden Holzbaracken am Ortsrand einzuquartieren.
Als die ungarischen Juden am 25. April 1945 in Persenbeug eintreffen, sind sie in einem erbärmlichen Zustand: krank, verwundet, unterernährt, verlumpt und desillusioniert. Sie werden wie vorgesehen untergebracht und mit dem Notwendigsten versorgt. Winkler hofft, so bei der vorrückenden russischen Armee Pluspunkte sammeln zu können. Bewachen lässt er die Gefangenen nicht mehr; sie sind ohnehin zu geschwächt, um fliehen zu können.
Am späten Abend des 2. Mai treiben SS-Schergen die arbeitsfähigen Männer aus den Baracken, unter dem Vorwand, dass sie an Panzergräben zu arbeiten hätten. Die Kolonne verlässt gegen 23.00 Uhr das Lager, gegen Mitternacht endet der Marsch. Die Männer, später ebenso dann auch die Frauen und Kinder, werden mit Tritten und Kolbenhieben in eine Grube getrieben und erschossen, die Leichen mit Benzin übergossen und angezündet.
Bei den Bewohnern benachbarter Häuser hat die SS die Nachricht verbreitet, eine Waffenübung abzuhalten, bei der scharf geschossen werde. Derart "beruhigt", schlafen die meisten Anlieger nach kurzem Wachwerden einfach weiter. Einige aber auch nicht, so wie Karl Brandstetter, der durch den Türspion Zeuge des Massakers wird und einen der Täter erkennt.
Am nächsten Morgen wird Winkler über die Vorkommnisse der Nacht informiert.
In einer verborgenen Kammer entdeckt er einen alten Mann und eine Frau, lebend. Auch der Lagerarzt, der zusammen mit Frau und Schwester in einer etwas abseits befindlichen Baracke untergebracht war, hat überlebt.
Winkler beginnt mit seinen Untersuchungen, wissend, dass er wahrscheinlich der einzige Reichsbeamte ist, der eine förmliche Ermittlung gegen SS-Angehörige wegen Judenmordes aufzunehmen gewillt ist.
Untersuchungen?! Eine Tatbestandsaufnahme gegen die SS?! – Die örtlichen Parteifunktionäre lehnen jede Zusammenarbeit ab, allen voran, feist, sarkastisch, Lagerführer Fricke, der überrascht tut, „warum man sich über ein paar kaputte Juden so aufregt!“ Aber Winkler lässt sich nicht von seinen Nachforschungen abbringen.
223 oder Das Faustpfand ist ein wichtiges, ein beeindruckendes, vor allem aber ein bedrückendes Buch – man liest es mit dem Wissen, dass Wieninger sich die darin geschilderten Vorkommnisse nicht ausgedacht hat, sondern ein tatsächlich verübtes, bis heute nicht aufgeklärtes Kriegsverbrechen dokumentiert. Akribisch hat er in Archiven gestöbert, Akten gewälzt und Fakten zusammengetragen. So ist ein hartes Buch über ein dunkles Kapitel der Geschichte entstanden. Aber es weist auch helle, menschliche Aspekte auf, sei es in Gestalt eines Mannes, der den marschierenden Gefangenen Brot und Wasser reicht, sei es in Gestalt der Bauern, die den flüchtigen Überlebenden bis zum Kriegsende Unterschlupf gewähren und ihnen dadurch das Leben retten.
Wieninger führt den Leser nah an das Geschehen heran, er zwingt ihm Bilder auf, die lange im Kopf bleiben. Manchmal folgt man den Gedanken und Empfindungen Franz Winklers, oft aber ist man bei den Opfern: in der Baracke, auf dem Todesmarsch, und selbst im Augenblick, in dem sie ihr Leben verlieren.
Die Schilderung einzelner, untereinander verwobener, Lebensläufe und Schicksale verleiht den 223 Ermordeten eine Identität und schafft eine Intensität der Darstellung, der man sich nicht entziehen kann.