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Ann Carson, Decreation. Gedichte, Oper, Essays. Aus dem Englischen (Kanada/USA) übersetzt von Anja Utler. 252 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 24,99 Euro » Verlag » amazon
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DECREATION
von Anne Carson
„Aber alles soll gewagt werden ...“
Indem wir uns verlieren, finden wir uns. Indem wir die Orientierung verlieren, finden wir eine Wahrheit, die wir suchend nie entdeckt hätten.
Anne Carsons Decreation, von Anja Utler – nach anfänglichem Zweifeln, das sie in der Neue[n] Rundschau erläutert hat – übersetzt, ist eine große Erzählung, die sich über verschiedene Gattungen entwickelt.
Vom Abschied von der Mutter („Stationen“, erstes Kapitel des Buchs), über den Schlaf als „Blindheit, die uns ansieht“, vom Erhabenen bis zur Auseinandersetzung mit Sappho, Marguerite Porete und Simone Weil und ihrer Art Gott zu sagen, die Carson in einem Essay und einer Oper führt.
Es ist unmöglich, einem derart elektrisierenden, formen- und gedankenreichen Buch in einer Besprechung gerecht zu werden. Anne Carson verknüpft Gedanken, Zeiten, Thesen und Themen zu einer überschäumend durchsichtigen Textur, webt Netze, in denen sich die Gedanken verfangen.
Alles was sie schreibt, baut auf dem Vorhergehenden auf und deutet gleichzeitig voraus auf das, was noch kommen wird. Man spürt, wie sich die einzelnen Puzzleteile zusammenfügen, ohne jemals ein vollkommen klares Bild zu ergeben.
Darum möchte ich mich hier auf den Essay beziehen, den Carson, mit einem Wort von Simone Weil, „Decreation“ nennt und in dem sie Sappho, Marguerite Porete und Simone Weil Dreiecke um sich, die Liebe und Gott ziehen lässt.
Es beginnt mit Sappho, jener griechischen Dichterin des 7. Jahrhunderts vor Christi Geburt, oder besser gesagt mit dem Fragment eines Gedichtes von ihr, das Longinus, der „antike Literaturkritiker“, wie Carson ihn nennt, überliefert hat.
Ich zitiere lediglich die letzte Strophe und den – für Carsons Vorhaben, vom Verhältnis der drei Frauen zu Gott zu sprechen, entscheidenden – letzten unvollständigen Vers:
und mich umfasst kalter Schweiß, und ein Zucken
ergreift mich ganz, und grüner als Gras
bin ich und tot – oder fast schon
scheine ich mir.
Aber alles soll gewagt werden, weil sogar eine Person in Armut ...
Damit beginnt die Decreation, die Sappho mit Simone Weil und Marguerite Porete verbindet: mit der immer virulenten und nie letztgültig zu beantwortenden Frage nach dem Ich, auf das das „seltsam verschlossene Licht der Introspektion“ fällt.
Es geht um Eifersucht, aber auch (und vor allem) um ein spirituelles Ereignis, um Ekstase, das Heraustreten aus sich selbst als Aspekt der Rückschöpfung.
Wirklich aufregend und auch der Grund, warum ich das Gedicht und Carsons Auseinandersetzung damit so ausführlich zitiere, ist, dass Carson aus dem letzten zweifelhaften und unvollständigen Vers Sapphos, aus dieser „Fährte“, von der niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wohin sie führt, Fragen entwickelt, die direkt ins Zentrum dessen zu weisen scheinen, was die drei Frauen verbindet – was nicht zuletzt auch Carson mit ihnen verbindet: die radikale Suche nach einer Wahrheit außerhalb der schützenden Grenzen eines „Ichs“, ein „absolutes Wagnis“.
Marguerite Porete ist dieses Wagnis eingegangen, und sie hat ein Buch darüber geschrieben. Deshalb hat man sie 1310 verbrannt.
Auch ihr geht es, wie Sappho, wie Simone Weil, um das „Zurücklassen des Selbst“. Marguerite Porete „meint, dass der freie Wille ihr Menschsein ausmacht, und sie entscheidet, dass Gott ihr den freien Willen gegeben hat, damit sie ihn zurückgibt.“ Ein Gedanke, der Simone Weils Überlegungen, die sie schließlich den Begriff „décréation“ prägen ließen, direkt vorwegnimmt, vorbereitet. Andererseits wird Sapphos richtungsweisende „Armut“ wieder aufgenommen, und auch das „Konzept“, die „Form“ der Eifersucht, dies Dreieck, das Carson bei jeder der Frauen ausmacht.
„Auch Simone Weil“, schreibt Carson, „ war ein Mensch, der sich selbst aus dem Weg schaffen wollte, um zu Gott zu gelangen.“ Wobei Weil der Überzeugung war, dass Gott wesentlich wesenlos ist: „Mit Liebe zustimmen, nicht mehr zu sein“, schreibt Weil, für die das Ego, das Selbst, die Sünde schlechthin war, „wie wir es tun sollen, ist keine Vernichtung, sondern vertikaler Überstieg in die höhere Realität des Seins.“
Spätestens jetzt, bei so viel Vernichtung und Verneinung taucht ein Problem auf. Denn wer sieht, beschreibt und berichtet denn vom „Wesen der Dinge ohne mich“ (Simone Weil)?
An diesem Punkt, im vierten Teil ihres Essays, knüpft Anne Carson wieder an den Anfang ihres Buches an, an die schon eingangs gestellte Frage, was diesen Punkt ausmacht zwischen „nichts“ und „etwas“, und wie er zu erreichen wäre.
Hier kommt Carson selbst ins Spiel, die es sehr gut versteht, im richtigen Moment von sich abzusehen und Sätzen wie dem nachfolgend zitierten mit ehrfürchtigem Staunen zu begegnen, statt sie in rationalen Erklärungen zu ersticken.
Wenn Marguerite Porete schreibt: „Seine Ferne ist das größere Nah“, bemerkt Carson: „Ich habe keine Ahnung, was dieser Satz bedeutet, aber er elektrisiert mich. Erfüllt mich mit Staunen. Dieser Satz ist ein kleiner, aber in sich vollständiger Akt der Anbetung, wie eine Hymne oder ein Gebet.“
Und auch ich verstehe längst nicht alles, was Carson an Gedankennetzen auswirft, nur so viel vielleicht, dass es weniger darum geht, die Dinge zu verstehen, sondern vielmehr darum, immer wieder zu versuchen, sie in all ihrer Widersprüchlichkeit zu durchdringen. Wer das lernen will, wer diesen Versuch wagen möchte, findet in Anne Carson vermutlich eine der besten Begleiterinnen, um das Staunen wieder zu lernen.