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16. Oktober 2015
Meinolf Reul
für satt.org
  Luise Boege, Kaspers Freundin

Luise Boege, Kaspers Freundin. Roman. 232 Seiten, Broschur. Reinecke & Voß, Leipzig 2015. 14,00 Euro
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Für Oktober angekündigt:
Luise Boege, Bild von der Lüge

Luise Boege, Bild von der Lüge. Erzählungen. 120 Seiten, Klappenbroschur. Luxbooks, Wiesbaden 2015. 14,90 Euro
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Luise Boege,
Kaspers Freundin

„Ein Roman in der Fasson einer guten alten Schauernovelle. Wie ein Gerippe, durch das der Wind fegt.“

So heißt es auf waldallerdinge, der Website von Luise Boege, über ihren (Debüt-)Roman Kaspers Freundin, der in diesem Frühjahr bei Reinecke & Voß erschienen ist, dem rührigen Einmannverlag aus Leipzig, der zuletzt schon mit Julia Veihelmanns Erzählungsband Die Grundprinzipien der Navigation sein Gespür für ungewöhnliche Narrativik abseits des Mainstreams bewiesen hatte: eine Literatur, die durchaus geeignet wäre, ein größeres Publikum anzusprechen, würde dieses nicht von den sogenannten Publikumsverlagen, als dem verlängerten Arm bornierter Fernsehräte, mit dem immergleichen Papp abgespeist (mit Ausnahmen, selbstverständlich). Wenn dann ein Text sich ein bisschen unbotmäßig gebärdet wie Kaspers Freundin, stört das natürlich den Sonntagsfrieden.

Die Geschichte, die Luise Boege in Kaspers Freundin erzählt – „ein Beziehungsdrama voller Geld und Geigen, mit Tod, Dilettantismus und Vampiren“, schillernd pathetisch und halsbrecherisch komisch, wie der Verlag zusammenfasst – spielt in unseren Tagen, in einer allerdings etwas entrückten Gegenwart.
Handlung, Sprache und Personal (neben Kasper und Kaspers Freundin sind vor allem zu nennen ein gravitätischer violetter Herr, ein beflissener Notar, eine anonyme und undurchsichtige Vereinigung namens Hohenzollernverein und der patente Vampirjäger Joseph) lassen eine weit vergangene Epoche aufscheinen; ein gewisses viktorianisches Sepiabraun liegt über der Erzählung, die feierliche Steifheit des 19. Jahrhunderts, wie sie sich ehedem im Vatermörder materialisierte, jenem unbiegsamen Stehkragen, den die schraffierten Herren in Edward Goreys Zeichnungen zu tragen pflegen.
Stilistische Anleihen weisen auch auf den Expressionismus – genauer: den filmischen Expressionismus mit seinen entfärbten Frauenfiguren und wunderlichen Gangarten, seinen dramatischen Schlagschatten, seinen eckigen, spitzigen, knochigen Formen …
Luise Boege greift das Moment von Heiterkeit, mit dem ein heutiger Zuschauer sieht, was vor hundert Jahren als Inbegriff des Gruseligen galt, in Kaspers Freundin leichthändig auf. Auch hier gibt es Staub (auf dem Fernseher), Spinnweben und krabbelnde Käfer, und hin und wieder schlägt knallend eine Tür ins Schloss.

Anlässlich einer Lesung Luise Boeges wies ihr Autorenkollege Georg Leß auf burleske, kasperlhafte Motive hin, wie z. B. das als running gag eingesetzte Sichübergeben aus dem Küchenfenster, und Boege ergänzte, dass Kaspers Gegenspieler Joseph (Seppel) heiße – „der junge Mensch Joseph mit der Nase“, wird er im Roman meist apostrophiert.
Es steckt also auch Kasperltheater drin in dieser (nennen wir sie ruhig so) Schauernovelle.

Wer ist jetzt aber Kasper? Wer Kaspers Freundin?
Kasper wird als junger Hauserbe und Violinist eingeführt (der allerdings bald seine Geige dem violetten Herrn verkauft, als der ihn, ungebeten, besucht, und der danach eine Weile nur noch auf dem ererbten morschen Klavier spielt).
Kaspers Freundin taucht tatsächlich nur als „Kaspers Freundin“ auf, ohne eigenen Namen.
Sie und Kasper gehören zusammen; sie definiert sich über Kasper:
Als ihre Therapeutin sie bittet, etwas über sich aufzuschreiben („wegen des eigenen Blickes, mit dem man blicken soll, weil er einem bleibt, als etwas, das bleibt, wenn alles andere weg ist“, wie es in einer absurd vertrackten Wendung heißt, an der eine Gertrude Stein ihre Freude gehabt hätte), gibt sie ihr einen Text über Kasper in die Hand:

„Das ist ein guter Text,
sagt sich Kaspers Freundin,
nicht perfekt, aber talentiert, was ja viel wichtiger ist,
sagt sie sich, und geht voll Zuversicht zu ihrer zweiten Therapiestunde.
Ja, loben wird man mich dafür!“

Eine Rezensentin bescheinigte dem Roman eine „simple, fast kindliche Sprache“.
Das ist zu bezweifeln und, nebenbei bemerkt, leicht wiederlegbar. Geradezu gegenteilig zur zitierten Einschätzung, lässt sich eher von Komplexität sprechen.
Es ist allerdings richtig, dass Luise Boege sprachliche Dichte nicht mittels kompliziert gebauter Perioden, einer besonders raffiniert angelegten Erzählperspektive oder einer bis in die feinsten Verästelungen der Psyche vordringenden Figurenzeichnung erzielt. Die von ihr verwendeten narrativen patterns sind in sich durchaus 'einfach' und werden in manchen Aspekten sogar schematisch starr gehandhabt – z. B. sind den einzelnen Figuren bestimmte Getränke und Merkmale zugeordnet: Joseph trinkt Tee und ist der „mit der Nase“, Kasper trinkt Kaffee, Kaspers Freundin Alkohol, und sie näselt, der violette Herr trinkt „andere Sachen“ und nur zur Geselligkeit auch mal Alkohol (der ihm dann schlecht bekommt) ... In ihrer Kombination ergeben sich aber phantastische, stürzende Perspektiven, vergleichbar dem Effekt jener mit je unterschiedlichen Linienmustern versehenen Folien, die, übereinandergelegt, flimmernd-alogische, unauflösbare Op-Art-Muster ergeben, die endlos betrachtet, aber niemals durchschaut werden können.
Unter den diversen Stil-, Symbol- und Firnisschichten, die Luise Boege mit der Akkuratesse einer Manieristin aufträgt, ist das Dargestellte nicht mehr eindeutig zu erkennen. Aus der Vermehrung von Transparenzen schafft sie etwas betörend Opakes.

„Geschichte jedenfalls kann man das nicht nennen, aber vermutlich handelt sie von der Einsamkeit und wiederum von der Einsamkeit.“

Dieser Satz steht in einer der hier und da über den Roman verteilten kursiv gesetzten Passagen und kann vielleicht als Metakommentar gelesen werden.

Kaspers Freundin ist eine Oblomowerei – das immer wiederkehrend genannte Haupt-Möbelstück ist nicht von ungefähr eine Chaiselongue.
Das Buch knüpft an historische Schauer- und Vampirgeschichten an (Horace Walpole, Mary Shelley, Bram Stoker, Joseph Sheridan Le Fanu hängen als dunkle Ahnenbildnisse an der Wand).
Es ist auch eine Beziehungsgeschichte.

Es erzählt von manifester Traurigkeit, die sich zu apathischen Zuständen auswächst, die in der Ausprägung der „Galoppierende[n] Anämische[n] Depression“ manchen Leuten das Genick bricht – in der Romanchronologie an erster Stelle, gleich auf der ersten Seite, Kaspers Großvater.

Kasper selbst fühlt sich auch schon „leichenhaft [...] und möchte bitte sterben“.
Über seine Freundin heißt es: „Sie ist nicht tot, aber richtig gut fühlt sie sich auch nicht.“ Sie bewegt sich „zeitlupenkalt“ hinter stets geschlossenen Vorhängen, fürchtet sich vor der „Lichtgrenze“ und verweigert sich zunehmend dem Leben, an dem Kasper als Geiger im Musical-Orchester immerhin noch Anteil hat.
Sie sagt ihm:

„Nun ist alles zersplittert und vollkommen zerstört in mir. Weißt du, dass ich [...] nicht vorhabe, ein lebbares, irgendwie friedliches System zu finden?“

Für beider Beziehung ist das verständlicherweise eine schwere Hypothek:

„Es ist schwer, mit jemandem zusammen zu sein, der jede Minute genau so gut aus dem Fenster springen könnte. Der tot in der Badewanne liegen könnte. Es ist nicht leicht.“

Dem teilweise düsteren Gehalt zum Trotz, ist Kaspers Freundin an keiner Stelle niederziehend oder gar bleiern, sondern liest sich eher komödiantisch.

„Einen Moment! Sie können mich nicht austrinken!
[...]
Sie dürfen,
erklärt sie,
einige Schlucke nehmen.“

Beides ist drin, Hell und Dunkel. Man muss sich gar nicht entscheiden, so wenig wie bei der ganz sinnlosen Frage:

„Ist die Musik eigentlich eine Linie oder ein Stapel?“

- womit wohl gemeint ist: Ist die Musik eine Melodie oder eine Harmonie?
Was für eine Alternative soll das sein!?

Es ließe sich noch viel sagen über Kaspers Freundin, aber es ist sowieso das Beste, diesen Neo-Vampirroman selbst zu lesen. Daher zum Schluss eine kleine Passage, als (weiteres) Beispiel für den feinen Witz und das rhythmische Empfinden, die Luise Boege zu Gebote stehen:

„Hinten hängt dem Herrn das Hemd aus der Hose, und das Hemd ist grün und ungefähr viertausendmal gewaschen. Es ist mit kleinen Elefanten bedruckt. Auf der Tweedhose des Herrn sind einige mikroskopisch kleine braune, vielleicht rote, vielleicht von Obst, Flecken. Ein sehr breiter Gürtel hält diese schöne Kleidung um einen sehr dürren Körper zusammen.
Der Herr spielt. Die Läufe gelingen ihm gut. Alles klingt ganz gut, um nicht zu sagen: schön. Beinah hat Kasper eine Gänsehaut, beinah macht sich eine feierliche Stimmung breit, wunderschön, und Kasper denkt:
Aber er hat ja Recht, diese komische Lampe macht doch tatsächlich ein ganz angenehmes Licht.“



Dieser Beitrag erschien zuerst am 10.7.2015 auf indiebook.de.