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14. Oktober 2015
Meinolf Reul
für satt.org
  Sonja vom Brocke, Ohne Tiere
Sonja vom Brocke, Ohne Tiere. Gedichte. [Ohne Paginierung, 40 Seiten]. Broschur. 20,5 x 13 cm. Verlag Heckler und Koch, Berlin 2010. 7,00 Euro
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Sonja vom Brocke,
Ohne Tiere

Am Titel bleibt man schon hängen, denn in welchem Kontext könnte jemand sagen: „Ohne Tiere”? Die für sich genommen harmlosen Wörter haben in der Kombination etwas Verunsicherndes, vage Bedrohliches.

Es ließe sich ein apokalyptisches Szenario denken (eine Welt ohne Tiere), Ernährungszusammenhänge, Kindheitserinnerungen (ohne Tiere aufwachsen).

Möglicherweise schlägt Sonja vom Brocke mit der Fügung „Ohne Tiere” aber auch nur einen listigen Haken, denn würde man nicht eher erwarten: Ohne Titel, wie man es v. a. von moderner Kunst kennt? Das würde ganz gut passen, wie das 2011 von ihr gemeinsam mit Christina Kramer herausgegebene Künstlerbuch thoughts fall / ins Fell und das Kapitel „Gemäldegalerie“ in Venice singt, in dem sie die schöne und lebendige Tradition des Gemäldegedichts fortsetzt, beweisen.

Ohne Tiere ist eine Folge von 18 verschieden langen, miteinander zusammenhängenden Texten, die formal als Zwischending zwischen Gedicht, Kurzprosa und Notiz beschrieben werden können. Die (drei) kürzesten bestehen aus je einem Vers und zählen sechs bzw. sieben Wörter, der längste umfasst 21 Verse (170 Wörter).

Ein Thema ist schwer zu bestimmen. Bei wiederholter Lektüre stellt sich der Eindruck eines Epitaphs zu Lebzeiten ein. Körperlichkeit wird benannt, anatomisch („Ohrhöhlen“, „Hirn“, „Knochen“, „Mark“, „Rippen“) oder diagnostisch („sie kommt nicht hinterher mit den Fingern“, „das holprige Klopfen vom Herzen“), Shakespeare zitiert – das 146. Sonett, ein Gedicht über Vergänglichkeit und Tod („Poor soul, the centre of my sinful earth“) – auch ein Vers aus Rimbauds „Das trunkene Schiff“, das den Menschen als Gescheiterten, als Ausgesetzten, als Wrack zeichnet („geworfen vom Orkan in vogellosen Raum“). In einem der Texte, dem siebenten, der ein Dutzend amtlicher Belege aufzählt, vom „Gehaltsnachweis“ bis zur „Energieabschlagsrechnung“, heißt es dreimal: „der letzten 3 Monate“. Verweist dies stumpfe Insistieren auf eine bestimmte Frist, die doch etwas Akzidentielles ist, auf das existentielle Faktum einer nur noch kurzen Lebensspanne? Es ist die Frage, wie sich der vergleichsweise geheimnislose Duktus dieses Gedichts in die im übrigen ganz und gar verschwiegene, alle Deutlichkeit meidende Erzählung von Siechtum, die Ohne Tiere vielleicht ist, einfügt. Hat es zu tun mit dem Spruch, den der Rezensent früher seinen Vater sagen hörte: „Formulare, Formulare, von der Wiege bis zur Bahre“? – „Alles vollgesogen von Tod[.]“, heißt es im unmittelbar nachfolgenden Gedicht. Darin und an anderer Stelle gibt es Hinweise auf Bettlägerigkeit und den damit verbundenen eingeschränkten Bewegungs- und Aktionsradius: „Gestern Lichter gefilmt, so lange es ging, aus dem Bett durch / das dreckige Fensterglas [...].“ - „Verschiebungen stellen sich ein, auch wenn sie im Bett / liegen bleibt.“ – Doch letzten Endes bleibt Ohne Tiere schwer zu deuten, zumal nicht auf eindeutige Weise. Immerhin lässt sich sagen, dass es Texte am Krisenpunkt sind. „Eine Leere hat sich ergeben[.]“, „Entwürfe habe sie nicht, sagte sie[.]“, „Transparente Hüllen verschwinden wie eine Illusion“, „[D]as Wildern für heute vorbei“, „Hier ist Exit“: Es sind dies alles Formulierungen des Aufhörens, des Nichts oder des Nichtlänger – und wenn dann doch einmal ein Lächeln vorkommt, dann ist es eines, „von / dem man sich nichts mehr versprechen kann // nichts“.

Im folgenden sollen drei Texte näher betrachtet werden.

Das humorvolle und auch anrührende Dialogstück „PAR CŒUR“ beginnt mit einem szenischen Hinweis: „Hagen, durchgesessenes Sofa. 90 und 89, aus Ulmumgebung verzogen, beim Anschauen von alten Photographien“. Die Stadt Hagen ist also Ort des Geschehens: Zwei uralte Leute sitzen auf einem durchgesessenen Sofa und blättern in einem Photoalbum und erinnern sich an früher. Das Erinnern wird jeweils durch den Staunlaut „oO“ eingeleitet. Jeder der zwölf Verse beginnt so und vermittelt auf diese Weise, dass die alten Leute das Gesehene identifizieren und in gewisser Weise begrüßen, ihm neu begegnen, es in ihrer Erinnerung erneuern, ihm auch – wo Auslassungspunkte folgen – schweigend nachsinnen.

oO(Desch is der Hirschwirt g'we'en, Karl)
oO(den hen i au no' gut g'kennt)
oO(...)
oO(...)

Der Großbuchstabe wäre normalerweise an erster Stelle zu erwarten; indem er an zweiter Stelle steht, wird „oO“ als Notierung kenntlich – zumindest ist anzunehmen, dass das große O lauter artikuliert wird als das kleine, und beide O's miteinander verschliffen werden.

Wer die beiden sind, die sich da gemeinsam erinnern, bleibt offen. Vielleicht sind es Eheleute (dann wäre Karl der Name des Ehemanns, und nicht der Name des Hirschwirts), vielleicht Geschwister oder Nachbarn – sicher ist nur, dass sie Erinnerungen an früher teilen.

Nur am Rande sei erwähnt, dass Doppel-O in der Schreibung o.O. auch für „ohne Ort“ steht und in bibliographischen Angaben verwendet wird. Es ist außerdem die Abkürzung für „ohne Obligo“: ohne Haftung, ohne Gewähr. Beides spielt aber für das Gedicht keine Rolle, auch nicht als versteckter Hinweis darauf, dass das Erinnern der beiden Alten unter Umständen Irrtümer einschließt.

„Par cœur“ heißt wörtlich „mit dem Herzen“. Im Deutschen wird es mit „auswendig“ wiedergegeben; treffender wäre „inwendig“.

„Connaître quelque chose par cœur“ (im Titel auf die beiden letzten Wörter reduziert) wäre so einerseits „etwas auswendig kennen“, andererseits „etwas im Herzen tragen“, „etwas verinnerlicht haben“ – da hätte es einer photographischen Erinnerungsstütze wohl gar nicht bedurft.

Die Ulmer Photographien treten zum Ende des Textes dann auch ganz in den Hintergrund, zugunsten der Hagener Gegenwart, in der das gemeinsam Erlebte und gemeinsam Bestandene aufgehoben ist und eine alte Liebe speist. In dieser vermischt sich das „PAR CŒUR“ mit dem lautlich naheliegenden, wenn auch nicht ausdrücklich erwähnten, Parcours, der – wörtlich übersetzt – „durchlaufenen Strecke“.

oO(i bin nimmer viel wert.)
oO(Hauptsach', du bischt noch da.)

oO(...)

Ist in diesem Dialektgedicht die Situation einigermaßen deutlich, so stellt sie sich im folgenden lapidaren, 'einsilbigen' Text als unergründlich dar. Jeder erzählerische Ansatz ist getilgt:

[hier kann der Text nicht geheilt werden]

Eckige Klammern werden in der Regel für ergänzende, erläuternde Einfügungen gesetzt. Die Worte scheinen sich also auf einen anderen – realen oder fingierten – Text/Kontext zu beziehen. Möglicherweise ist der Bezug der letzte Vers des vorherigen Gedichts: „Und schon splittert's.“

Oder sind pauschal die anderen Texte aus Ohne Tiere die Referenz? Oder heißt „hier“: in der Schrift?

Noch interessanter ist die Frage, was das Verb „heilen“ zu bedeuten hat.

Ist der Text der Kranke, oder ist er die Krankheit (die Wunde)?

Anders gefragt: Geht es darum, den Text 'gesund' zu machen, oder ihn zum Verschwinden zu bringen, oder ihn von etwas Schädlichem zu befreien?

Vielleicht spielt bei „[hier [...]]“ das hinein, was Jan Kuhlbrodt in seiner Besprechung von Venice singt als das Dilemma einer Dichtung festhält, die auf „die Vielfalt semantischer Möglichkeiten am Rande der Sprache“ abzielt:

„Sprache wird niemals zum reinen Geräusch, andernfalls hört sie auf, Sprache zu sein. Die Semantik hängt ihr an [...].“

In dieser Lesart wäre das Schädliche der Wortinhalt, den die Wortform immer mit sich trägt – wie abgerockt auch immer.

Das (auch gemäß der Anordnung im Buch) folgende Gedicht scheint direkt hierauf zu antworten, denn es beginnt mit dem Terminus „Therapie“. – Die Heilbehandlung für den an seiner semantischen Last krankenden Text sieht vor, gar nicht mehr zu schreiben, und stattdessen zu zeichnen, ohne dass dies ausdrücklich benannt wäre; aber auch das nicht gesagte, geschriebene, Wort ist Teil der Aussage, wenn die tatsächlich geäußerten Worte – und der sie liest oder hört – dies wollen.

Therapie

erst Linien, dann Kreise, dann Häuser, dann Wolken
dass nichts

uneindeutiger                        sein kann

Beuys' Diktum „Auch wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich“ gilt ebenso in der Umkehrung: Das Zeichnen ist wieder ein Schreiben und Aussagen, weil auch das Gezeichnete etwas bezeichnet (Linien, Kreise, Häuser, Wolken) und ein Bezeichnetes im Schlepptau führt.

Abschließend ein Wort zur Buchgestalt. Die Anmutung des Bändchens ist harsch. Der weiße, glänzend-glatte Einband vermerkt nur den Namen der Autorin, Titel und Verlag / Verlagsort. Innen kommt der Copyrighthinweis hinzu, und der Vermerk: „Printed in Gemany“ – keine Genrebezeichnung, keine Textnumerierung, keine Seitenzahlen, keine biographische Notiz, kein Bild. – Es ist aber gerade diese auffällige und unüblich gewordene Abwesenheit von Paratext (ausgenommen Titelei und Impressum), die die Textpräparate voll zur Geltung kommen lässt und ihnen alle nötige Aufmerksamkeit sichert.


Zuerst erschienen auf lyrikkritik.de