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5. Januar 2016 | David Peters für satt.org |
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Das Literarische Quartett:
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Alban Nikolai Herbst, Traumschiff. Roman. 320 Seiten, gebunden. mare Verlag, Hamburg 2015. 22,00 Euro » Verlag |
Biller: Genau dieser Ton ging mir manchmal schon auf den Zeiger. Ich meine, dieser Autor ist doch eine Erscheinung. Adlig. Kein Jude zwar, aber immerhin entfernt mit einem Nazi verwandt, was ihn zwang, unter Pseudonym zu veröffentlichen. Beim Büchner-, ach, Bachmannpreis leider vom Stirnritzer Rainald Goetz skandalmäßig ausgestochen. Publicitymäßig blieb der Prozess um sein Meere leider auch hinter meinem Esra zurück. Und dabei hatte er doch noch so BDSM-Zeug dabei.
Ich mein', der Typ kann doch schon mal explizit, verstehe ich nicht, dass er hier so brav, so mild, so versöhnlich ist.
Schirrmacher: Ja, aber es hätte doch hier gar nicht gepasst. Zum Ganzen. Klar sind die Avancen gegenüber der Klavierlehrerin sehr platonisch. Aber warum auch nicht? Warum soll es mal nicht dezent sein? Dass da aufgrund des Alters auch vermutlich nicht mehr viel liefe, das wird doch auch wiederum explizit gesagt.
Weidermann: Na, bevor wir hier mitten einsteigen, vielleicht noch etwas zur Orientierung. Wie das Ganze aufgebaut ist.
Auf einer Kreuzfahrt beginnt dieser Lanmeister in Kladden zu schreiben. Und auch wenn dies nie ausdrücklich gesagt wird, so ist uns dieser Roman eigentlich in Form dieser Kladden gegeben. Darin tauchen wir ein in das mäandernde, teils in Schleifen laufende Bewusstsein dieses Menschen.
Westermann: Ja, und da ist doch auch schon das erste Problem. Dieser Lanmeister soll ein etwas zwielichtiger Geschäftemacher gewesen sein. Durchaus unsympathisch, der keinerlei Beziehung zu seinem Sohn aufbauen konnte oder wollte. Mehrere Frauen, gescheiterte Beziehungen. Nichts, das auf Sensibilität und auch Interesse an sprachlichem und innerem Ausdruck weist. Und der wird da unvermittelt zum Poeten.
Weidermann: Nun, ganz will ich das nicht abstreiten, dass das unplausibel oder zumindest fragwürdig erscheinen mag.
Aber der Autor gibt doch zumindest auch etwas Zeit der Eingewöhnung. Also, gerade zu Beginn zweifelt der Erzähler doch an seiner eigenen Sprache. Ist unsicher, ob der Begriff gerade richtig ist, die verwendete Redewendung überhaupt existiert.
Westermann: Aber diese Infragestellungen sind doch fingiert. Der irrt sich doch kein einziges Mal, und dass er dann auch noch russische und ukrainische Wörter kennt. Reist der immer mit Wörterbuch?
Schirrmacher: Nun, als „Russenkind“, oder auf Reisen, kann ihm doch das ein oder andere über den Weg gelaufen sein. Daran würde ich mich nun nicht stören wollen.
Aber bleiben wir doch kurz bei der Erzählstimme. Die ist nämlich hochinteressant, will ich meinen. Obwohl ja eigentlich verschriftlicht, klingt sie, finde ich, sehr wie das gesprochene Wort. Zwar eigentlich ein innerer Monolog, aber anders als wir Bewusstseinsströme sonst vielleicht kennen, wenn da Gedanken assoziativ geballt werden, unglaubliche syntaktische Wortkaskaden sich auftürmen.
Biller: So wie in Ihren Essays.
Schirrmacher: Aber hier haben wir stattdessen ganz kurze, klare Sätze. Manchmal ganz ohne Verb. Einfache Parataxen. Aber mit einer Präzision …
Westermann: Zu der der echte Lanmeister gar nicht fähig wäre …
Schirrmacher: Und dann pfeffert er da Sentenzen raus wie: „Bewusstsein ersetzt Bewusstsein“.
Westermann: Versteh' ich nicht.
Weidermann: Nun, damit etwas etwas anderes ersetzen kann, müssen die Dinge unterscheidbar sein, d. h. Bewusstsein ist nicht gleich Bewusstsein. Insbesondere die Alltagssprache vermischt ja „Bewusstsein von“ oder „Bewusstheit“ mit dem Selbstbewusstsein … Oder denken Sie an diesen fernöstlichen Kram von Achtsamkeit und immer tieferer Selbstdurchdringung. Das ist auch durchaus drin in der Geschichte. Wie dieser Lanmeister auf einmal mit jeder Faser die Spatzen, die Wellen, die Rochen, die Menschen beobachtet.
Biller: Ja, bleiben wir doch einen Moment bei den Menschen, die ihn da umgeben auf dem Kreuzfahrtschiff, das immer nur „Traumschiff“ genannt wird.
Da ist z. B. Tatiana, die sich um ihn kümmert. Ein Clochard, die angehimmelte Kateryna, Fräulein Seifert, die ihm den Gehstock hinterließ, Senhora Gailhant und Madame Gellet – vielleicht meerjungfrauhafte Sterbebegleiterinnen –, Dr. Samir, Dr. Björnson, den er zunächst ablehnt – und am wichtigsten für seine innere Welt sind wohl die beiden engeren Freunde Monsieur Bayoun und Mr. Gilburn.
Von einem hat er ein Mahjong-Spiel geschenkt bekommen. Die Zahl der Steine, 144, wird zu einer Art zahlmagischen Begleiters des Textes.
Westermann: Der nervt.
Schirrmacher: Ach, das sind doch aber nur Kristallisationskeime des Bewusstseins. Haben Sie das nicht als Kind auch mal beobachtet? Diese Spielchen, z. B. die unterschiedlichen Farben der Steine des Gehsteigs mit übernatürlicher Bedeutung aufzuladen. Wie: wenn ich es jetzt schaffe, nur die dunkleren Steine zu berühren, dann ... wird Mama wieder gesund.
Westermann: Und was hat das nun mit 144 zu tun?
Schirrmacher: Dass es ebenso willkürlich ist. Bei den Physikern war es z. B. die 137. Wegen der Feinstrukturkonstante. Da entwickelten auch einige dieser rationalen Geistesheroen einen paranoiden Aberglauben, wenn sie im falschen Hotelzimmer einquartiert wurden.
Biller: Oder nehmen Sie die Kabbala … Auch in der Bibel, da wird nur so mit bedeutungsschwangeren Zahlen um sich geworfen.
Weidermann: Das sollte damals wohl auch die schlichten Gemüter beeindrucken …, dabei – aber wir schweifen ab. Zurück zu dem Personal an Bord.
Westermann: Oder in der Klinik. Ich glaube, einmal zeigt Lanmeister sich sogar darüber verwundert, dass Tatiana mehr macht, als sie eigentlich sollte, nämlich ihn auch wäscht und pflegt. Da schimmert doch wohl durch, dass Lanmeisters reale Gegenwart nicht die Kreuzfahrt, sondern wohl eher ein Hospital oder Hospiz sein dürfte.
Weidermann: Was ich nicht einmal so richtig gecheckt habe ... Aber es ist schon vielleicht wichtig herauszuheben, dass die ganze Atmosphäre auf dem Traumschiff eine entrückte, der Realität enthobene ist.
Biller: So ein bisschen Zauberberg vielleicht, nur nicht ganz morbid, schon moribund, aber nicht krankhaft.
Westermann: Na, die Gebrechen, die er dann altersbedingt bekommt, beschreibt er doch offen.
Schirrmacher: Aber nicht weinerlich, und er weidet sich auch nicht daran. Es gibt da nicht diesen Genuss des Pathologischen, der Aberration wie bei Mann. Sondern vielmehr Lebensbejahung. Das müsste doch gerade Ihnen zusagen.
Westermann: Ja … Aber einen Einwand habe ich noch: Gerade wo es dem Ende zu geht, er auch immer vergesslicher wird, sich an die Personen nicht mehr erinnert. Da bleibt die Sprache doch immer noch so klar. Da … ist keine Trübung, kein Stammeln, keine Sprachlosigkeit.
Schirrmacher: Ja, genau, da ist eben auch keine Trübung des Bewusstseins. Dieser Mensch geht offenen Auges seinem Ende entgegen. Und bejaht es. Bejaht das Leben, seine Fehler, seine Schuld. Das ist doch das Wunder, das Menschliche.
Weidermann: Es gäbe noch viel zu sagen, so viele Details: die Rolle der Musik z. B. Wie dieser alte Lanmeister plötzlich zur Musik findet. Denn das ist ja nicht nur, dass er zur Sprache und zum eigenen Ausdruck findet – er findet mit der Liebe zu der Pianistin auch zur klassischen Musik. Sogar zur modernen Klassik, nicht nur Bach, was bei diesem Autor vielleicht nicht überrascht. Da ist also auch diese beinahe klassische Geschichte der Menschwerdung durch Kunst und Kultur.
Biller: Das, was wir alle quasi genetisch in unserer Erziehung mit aufsaugen. Als ideologische Grundlage unseres Kulturmenschentums.
Schirrmacher: OK, ich glaube, das können wir hier als Schlusswort stehen lassen, meinetwegen auch mit Ihrer ironischen Brechung, denn selbst die verträgt der Sieg der Kunst.
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