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14. März 2016
Sonja Grebe
für satt.org
  Wilhelm Bartsch, Amerikatz. Ein abgrundtiefer Fall
Wilhelm Bartsch, Amerikatz. Ein abgrundtiefer Fall. Roman. 380 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 20 x 12 cm. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 22,00 Euro. Das E-Book ist zum Preis von 14,99 Euro erhältlich.
» Verlag


Wilhelm Bartsch:
Amerikatz.
Ein abgrundtiefer Fall

Die Brooklyn Bridge hängt, Bauch nach oben, am Himmel. Ein Kunststück, das lediglich einer kleinen Handbewegung bedarf: Jensie Immakoolee Stone, genannt Amerikatz, hat eines ihrer Fotos der Brücke samt einschlagendem Gewitterblitz kurzerhand verkehrt herum aufgehangen, und so bilden Stein und Stahl nun ein dunkles Firmament, aus dem ein Leuchten herniederfällt.

Was auch immer in der Welt als Festes, Unverrückbares besteht, vermag durch die Kunst einhändig auf den Kopf gestellt zu werden. Dass Wilhelm Bartsch jenes Bild, die Brooklyn Bridge überkopf, als Türöffner verwendet, zeigt in diesem Sinne an, dass sein Roman um einen Detektiv auf Abenteuerpfaden weniger dem festen Boden der Tatsachen verhaftet, sondern in erster Linie der Kunst verpflichtet ist – der des ernsthaften Dichtens wie des wilden Fabulierens: Bartsch dreht die Welt um 180 Grad, schüttelt alles kräftig und macht, was hierbei blitzartig herniedergefallen kommt, zu seinen Figuren, Schauplätzen, Handlungssträngen.

Micah Microbius, Privatschnüffler, Weltenbummler und das Ich dieser Geschichte, betreibt mit seiner Partnerin Adele von Strauch in Berlin-Charlottenburg sein Gewerbe von einer kleinen Klitsche aus, die sich Büro schimpft. Mit seinem neuesten Klienten hängt ein selten dicker Fisch an Micahs Angel: Boris Untied, Stasigeneral a.D. und heute lokaler Sicherheitsunternehmer, öffnet sein großes Portmonee und beauftragt Micah mit der Suche nach seinem verschwundenen Sohn Jan. Die Stasi mag passé sein, für allwissend a.D. hält Micah den alten General jedoch mitnichten, und so verwundert es ihn, weshalb Untied nicht einfach an den eigenen Strippen zieht, die noch immer international greifen, um Untied junior ausfindig zu machen. Eingedenk ausstehender Mietzahlungen, und weil man einen Untied nun einmal nicht los wird - es sei denn, man ist selbst einer -, nimmt Micah den Auftrag an und sein mulmiges Bauchgefühl dabei in Kauf. So beginnt für Micah eine Reise auf den Spuren des Jan Untied, die ihn durch den Wilden Osten und den Wilden Westen führt, mit Stationen von Nagorny Karabach im Kleinen Kaukasus, wo Micah nebenbei eine Familienzusammenführung mit seinem armenischen Großvater erlebt, über New York, bis in die entlegenen Weiten Oklahomas, wo einst für die Cherokee der Pfad der Tränen seinen Endpunkt nahm. Geplant als geordnete Suchaktion, mutiert dieses Unterfangen zur abenteuerlichen Jagd: Micah wird verschleppt, kann sich befreien, trifft auf zwielichtige Geheimdienstler, muss sich zu Fuß durch die Wildnis schlagen, gerät an die falschen Mittelsmänner, in diverse Schusswechsel und verliert beinahe seinen Kopf. Und beinahe sein Herz - allerdings nicht an die cherokesische Künstlerin namens Jensie Stone, Amerikatz, deren Liebhaber Jan Untied war, und deren Lebenspartner Deodat Increase Mason, milliardenschwerer Unternehmer und Abenteurer, womöglich etwas dagegen hatte. Viel wird hier erzählt, auf nichts ist dabei Verlass, am allerwenigsten übrigens auf naheliegende Schlussfolgerungen.

Ein ums andere Mal erwägt Micah ernsthaft, die Flinte ins Korn zu schmeißen. Aber nein, er bleibt dran. Nicht nur zwecks Auftragserfüllung – gleichermaßen nämlich betreibt er Geschichtsfindung im eigenen Auftrag. Ein wahres Verhängnis nenne ich etwas, das nicht kommt, sondern zu dem man hingeht, hingehen muss. Man benutzt dazu Wege, die auf keiner Karte stehen, und so ergibt sich durchaus eine gar nicht folgerichtige Geschichte. Denn erst, wenn man überhaupt die Chance hat, diese Geschichte halbwegs zu überblicken, sind wirklich zusammengehörige Muster zu erkennen. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil wir es so wollen. Micah erkennt nicht nur, dass Jan und er früher Klassenkameraden waren, sondern findet, indem er reisend und jagend Jans Fluchtwege nachvollzieht, weitere gemeinsame Schnittpunkte. So betätigte sich Jan als Schriftsteller, und auch Micah schreibt seine Erlebnisse mit talentierter Hand nieder. Und wie aus den Fragmenten, die von Jans Literatur geblieben sind, dessen Weg ins Verhängnis ablesbar ist, schreibt sich der Mut zum eigenen Verhängnis in die Reisenotizen des Micah Microbius ein, aus denen nach und nach seine gar nicht folgerichtige Geschichte erwächst. Die Muster zu erkennen, die inmitten jenes Durcheinanders Orientierung bieten – darin besteht nun die eigentliche Herausforderung für Micah.

Nicht anders ergeht es der Leserschaft. Der One-Stroke-No-Stroke-Man (ehemaliger NVA-Panzerhauptmann, in den USA wegen seiner Ein-Strich-kein-Strich-Armeejacke zu diesem Namen gekommen), Foggy Gellhorn (Hobbyschnüffler, Cousin Micahs und dessen Kontaktmann in Iowa), der Hagere und der Hagerere (vermutlich von der NSA auf Micah angesetzt), der Erzbischof von Nagorny Karabach, Kandida Goytia (Modeschöpferin mit Sitz in Kolumbien, Freundin Adeles), Zelda Cazador (mexikanische Totenschnüfflerin), die 99 Teppiche des Mollah Panah Vagif, befreite Sklaven und DDRler auf Abwegen, Rituale der Mohawk und der Cherokee, die Werke des deutschen Raum-Künstlers Gregor Schneider, Itelmenen auf Reisen, Kindheitserinnerungen aus Ost-Berlin, die Geschichte der Stadt Schuscha, ein Beutel voller Turnschuhe, armenischer Kognak – wer oder was eine tatsächlich wichtige Rolle spielt, lässt sich in dieser Geschichte, deren Personenverzeichnis enorm ist und deren Erzählwege oft über holprige Nebenstrecken oder in Sackgassen verlaufen, nur schwer ausmachen. Am besten verlegt man sich also gleichfalls auf Mustererkennung.

Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang, Karl May – Micahs Lieblingslügenbold – und dessen Werk aus dem Hinterköpfchen hervorzukramen und während des Lesens von Amerikatz immer ein Auge darauf zu haben. Ein Gedicht Karl Mays ist dem Roman als Geleitwort vorangestellt, und von dieser Position aus scheint der hochverehrte Pseudologe auf seinen Jünger Micah hinabzuschauen und ihm für dessen erzählerisches Vorhaben seinen Segen zu erteilen. Ein paar Seiten später findet sich dieses Gedicht wieder, ist quasi von außen ins Geschichtsinnere hinübergeschlichen: Es taucht, wie von Geisterhand so aufgeschlagen, in einem Buch auf, das jemand im seltsamsten Fahrstuhl der Welt hat liegen lassen, mit dem Micah täglich fährt und der ihm die schönsten Geistesblitze einflüstert – übrigens war Karl May selbst einst als Fahrgast darin unterwegs gewesen. Bartsch schickt seinen Micah als modernen Kara Ben Nemsi bzw. Old Shatterhand quer durch Ost und West, lässt ihn verschiedenste Sprachen beherrschen und ihn auf stolze, kriegerische Volksstämme treffen, und Micah kennt sich aus oder passt sich schnell an, hat überall seine Freunde, ob nun in der Provinz Martakert, in Kanatsiohareke-New York State, oder daheim in Berlin-Charlatanburg. Angelehnt an die Federführung Karl Mays, agiert Bartsch schreibend eine ganz ähnliche, ungebremste Fabulieritis aus, löst sich jedoch häufig, wie auch May in seinem Spätwerk, vom Abenteuerroman und wendet sich Ernstzunehmendem zu: Neben ein paar weltanschaulichen Denkanstößen, fallen dabei vor Allem Bartschs Übertragungen von Gedichten Ossip Mandelstams und Grigor Narekatsis ins Auge, die sich nahtlos ins Erzählte einfügen.

Was aber bezweckt Bartsch am Ende mit dieser ganzen hanebüchenen Geschichte, mit all diesen skurrilen Figuren? Wozu einen Karl May literarisch exhumieren, ihn wiederbeleben und in neue Kleider stopfen? Kurz, was soll das alles? Der Klappentext antwortet, dies sei als lustvoller Abgesang auf das Zeitalter der Informationsüberflutung zu verstehen, in dem nur überlebt, wer das wirklich Wichtige nicht aus den Augen verliert. Nur höre ich einen solchen Abgesang nirgendwo heraus. Anstatt für Überblick zu sorgen, hat Bartsch seine helle Freude daran, Überladung zu schaffen, doch diese Überladung an sich formuliert längst noch keine Kritik am Zeitalter der Informationsüberflutung. Trotzdem dient der Aberwitz nicht allein dem Selbstzweck. Der Roman begnügt sich nicht damit, bloß kuriose Unterhaltung zu sein: Er erhebt das Hochstaplertum zur Kunstform. Bartsch verbindet Flapsigkeit mit Virtuosität, Humor mit Tiefgang, er probiert, sprachlich und thematisch, mutig drauflos und versprüht dabei irrlichternde Blitze, die den Kopf erhellen.