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Silke Scheuermann, Wovon wir lebten. Roman. 528 Seiten, gebunden. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 24,00 Euro. - Das E-Book ist zum Preis von 19,99 Euro erhältlich. » Verlag
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Reflexive Schachzüge
Silke Scheuermanns Roman
Wovon wir lebten
Die Stiftung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zeichnet seit geraumer Zeit alljährlich vor Beginn der Frankfurter Buchmesse den „Roman des Jahres“ mit dem Deutschen Buchpreis aus. So steht es in den Statuten, die die Juroren 2016 aber offenkundig nicht sonderlich fest im Blick hatten. In die Endrunde schaffte es jedenfalls mit Thomas Melles Die Welt im Rücken ein autobiographischer Bericht. Und Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis, vom Autor gar nicht als Roman, sondern als Novelle bezeichnet, gewann am Ende kurioserweise sogar den Wettbewerb.
Schon Kurt Tucholsky merkte einmal an (1931, in seinem Feuilleton „Die Reportahsche“), dass „bei uns jede kleine Geschichte gern ‚Roman‘ genannt“ werde, was er – der selbst einen Roman schreiben wollte, es aber nicht schaffte – ganz und gar missbilligte und resolut mit der Feststellung quittierte: „Die Kerle sind ja größenwahnsinnig. Krieg und Frieden ist ein Roman.“ Noch etwas anderes kommt hinzu: Bodo Kirchhoffs Novelle erzählt (auch) von den Flüchtlingen, die sich 2016 zu hunderttausenden auf den Weg nach Europa machten, und das, so scheint es, hat bei der Entscheidung keine geringe Rolle gespielt. Die Begründung der Jury hebt jedenfalls ausdrücklich auf diesen Umstand ab.
Bei allem Verständnis für die moralischen und politischen Beweggründe, die dieser Preisvergabe anscheinend zugrunde lagen, war es jedoch fahrlässig, ihnen nachzugeben. Denn Moral oder gar vermeintliche (volks-)pädagogische Tauglichkeit von literarischen Texten ist nun mal kein Kriterium für deren künstlerische Güte. Es scheint ganz ins Vergessen geraten zu sein, was schon Theodor W. Adorno gegen die künstlerische Darstellung politischer Grausamkeiten samt ihrer Folgen einwandte: Sie enthalte, „sei's noch so entfernt, das Potential, Genuß herauszupressen". Durchs „ästhetische Stilisationsprinzip“ erscheine nämlich „das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend einen Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen“, „noch der Völkermord“ werde so „zum Kulturbesitz“.
Unter den für den Buchpreis 2016 eingereichten Romanen gab es mit Silke Scheuermanns Wovon wir lebten auch einen, der in einer zentralen Passage auf sehr einnehmende Weise die begrenzte Wirkmächtigkeit von Literatur thematisiert. In dieser Passage muss Marten, der Protagonist und Ich-Erzähler, für ein paar Tage ins Gefängnis. Um sich dort die Zeit zu vertreiben, nimmt er aus dem häuslichen Bücherregal Charles Dickens' Roman Große Erwartungen mit. Er beginnt auch mit der Lektüre, die ihn aber schnell fürchterlich anödet und aus dem Buch Konfetti machen lässt. Dabei verbindet Marten viel mit Pip, dem Ich-Erzähler in Dickens' Roman: Beide wachsen in prekären Verhältnissen auf, beiden ist ein Lebensweg vorgezeichnet, der keinen Wohlstand verspricht, und beiden ist das Glück beschert, nicht nur ihrem Milieu entfliehen, sondern sich auch noch ausgerechnet mit der Frau liieren zu können, die unter normalen Umständen für sie völlig unerreichbar gewesen wäre. Dickens' sozialkritischer Realismus vermag in Silke Scheuermanns Roman aber gerade den nicht anzusprechen, dessen Herkunftsmilieu er zur Sprache bringt.
Sozialkundlich orientierte Deutschlehrer, die literarischen Artefakten gerne gesellschaftliche Relevanz abnötigen, weil sie Literatur nur so einen Sinn abzugewinnen vermögen, könnten hier lernen, dass auch in diesem Fall – wie bei der aktuellen Konjunktur des Flüchtlingsthemas in der Literatur – sozialkritische Prosa diejenigen in der Regel nicht im mindesten interessiert, von denen sie handelt. Deren Schicksal wird vielmehr zum Gegenstand der Kontemplation und moralischen Erbauung vor allem für ein Juste Milieu, das sich in eben den Verhältnissen gut einzurichten weiss, mit denen sozialkritische Literatur sich befasst.
Mit dem raffinierten Schachzug Silke Scheuermanns, ihrem Protagonisten Marten ausgerechnet Dickens' Große Erwartungen in die Hand zu drücken, wird ihr Roman das, was Dickens' Roman nicht ist: reflexiv. Die moralischen Aporien des sozialkritischen Romans sind dadurch mit leichter Hand im Hegelschen Sinn aufgehoben: zugleich negiert, bewahrt und auf eine andere Ebene gebracht. Doch damit nicht genug: In ihrem reflexiven Bildungsroman spielt sie an drei Figuren durch, welche soziale Rolle Kunst haben kann und Kunstspezifisches gerade dadurch meist verfehlt wird.
Da ist zunächst Stella von Sternberg, die die begüterten Verhältnisse, in denen sie bei ihrer Tante aufwächst, nicht glücklich machen. Sie flüchtet sich in eine Magersucht und widmet sich selbsttherapeutisch dem Zeichnen und dem Malen. Ihr völlig subjektivistisches künstlerisches Credo lautet: „Was ich male, ist oft gar nicht entscheidend, es ist die Stimmung, auf die es mir ankommt.“ Marten muß daraufhin lachen und erklärt: „Ich habe gerade versucht, das aufs Kochen zu übertragen und mir vorgestellt, wie ich einen Teller Melancholie zubereite, eine Schale Müdigkeit, eine Auflaufform voll Glück.“ Dass er damit Stellas künstlerische Haltung restlos der Lächerlichkeit preisgibt, geht ihm freilich selbst genauso wenig auf wie er vorher in der Lage war, mit dem Roman von Dickens etwas anzufangen.
Auch für Jenna hat künstlerische Betätigung zunächst die Funktion von Lebenshilfe: Schreibend rekapituliert sie ihre gescheiterte Beziehung zu Marten, die sich bei ihr jedoch anders liest als in der Schilderung, wie wir sie zuvor von Marten bekommen haben. Aus Jennas Text wird ein Buch, aus dem Buch ein Bestseller, für den sich in einer Fernsehsendung, die Marten zufällig sieht, eine Literaturwissenschaftlerin begeistert. Sie findet „von der psychologischen Seite her unglaublich reizvoll“, dass Jenna sehr verständnisvoll mit ihrem Ex-Freund umgehe, obwohl sie doch keinen Zweifel lasse, dass es sich um einen gewalttätigen Charakter handle. Der „Kunstgriff, die Perspektive des Mannes einzunehmen, der Wille zur Empathie“, habe sie „‚absolut überzeugt’, ohne diese ‚Volte’ wäre das Buch ‚nur ein weiteres Machwerk der Betroffenheitsliteratur’.“
Der Roman wird an dieser Stelle erneut reflexiv, denn Silke Scheuermann hat schließlich ihren männlichen Protagonisten Marten als Erzähler eingesetzt. Der Kunstgriff Jennas ist mithin Silke Scheuermanns eigener, der bei ihr nur noch etwas weiter getrieben ist. Er zwingt den Leser spätestens jetzt dazu, die geschickt erzeugte verständnisvolle Haltung gegenüber dem Erzähler und dem von ihm Erzählten, genauso in Frage zu stellen, wie den nun folgenden kritischen Seitenhieb gegen die „Literaturfrau“, von der es heißt, sie habe „noch mal losgelegt und mit ihrem fremdwortgespickten Wortschwall in kürzester Zeit alle niedergemäht“. Es ist wohlgemerkt Marten, der so spricht, nicht die Autorin, die selbst studierte Literatur- und Theaterwissenschaftlerin ist.
Obwohl Marten mit Literatur nichts anzufangen weiß und für eine Reflexion literarischer Mittel nur Verachtung übrig hat, besitzt er eine künstlerische Ader, die er bis zur Meisterschaft zu kultivieren versteht: Er wird Spitzenkoch, Mitinhaber eines Edelrestaurants in Frankfurt am Main und bekommt eine eigenen Kochsendung im Hessischen Rundfunk. Eine solche Entwicklung war ihm möglich, weil er als Kind einer Alkoholikerin und eines meist abwesenden Vaters oft gezwungen war, sich und seiner jüngeren Schwester selbst das Essen zuzubereiten. Seine kochkünstlerische Ader erweist sich also als Resultat einer notgedrungenen sozialen Praxis. Diese Ader freizulegen und eine Wende zum Besseren in seinem Leben zu bewirken, verdankt sich allerdings – eine weitere Parallele zu Dickens' Große Erwartungen – nur einem Zufall. Martens Bildungsweg ließe sich daher nicht nachahmen oder pädagogisch befördern, denn es ermangelt ihm wie ein Lottogewinn jede Planbarkeit.
Im klassischen Bildungsroman, in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, ist die Auseinandersetzung mit Theater, Kunst und Literatur ein fruchtbares Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung, das den Protagonisten dazu reifen lässt, ein tätiges Leben jenseits von Theater, Kunst und Literatur zu führen: Goethes Wilhelm wird schließlich, wie man allerdings erst zu Beginn von Wilhelm Meisters Wanderjahre erfährt, Arzt. Zu einer solchen Entwicklung sind die Figuren in Silke Scheuermanns Roman allesamt unfähig. Auch Martens charakterliche Deformation, die vermutlich Resultat der Verhältnisse ist, in denen er aufwuchs, hat er auf seinem erfolgreichen Bildungsweg keineswegs überwunden, sondern nur mit einer „Schicht Kultiviertheit“ überdeckt. Indem Silke Scheuermann das nach 524 von 525 Seiten Marten selbst bemerken lässt, vollzieht sie im Roman eine dritte reflexive Wendung, die diesmal eine des Erzählers auf sich selbst ist und, wäre er ein Mensch und keine Kunstfigur, tatsächlich hoffnungsvoll stimmen könnte.