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8. Mai 2017
Meinolf Reul
für satt.org
  »Flusspferd im Frauenbad« von Jens Nielsen


»Flusspferd im Frauenbad«
von Jens Nielsen

Minutennovellen hieß ein Buch des ungarischen Schriftstellers István Örkény, das es zu einiger Berühmtheit gebracht hat – Mininovellen, die man in ein bis zwei Minuten gelesen hat; der Autor sprach von „Brühwürfeln“. Minutennovellen sind auch Jens Nielsens 81 „Kleine Erzählungen“ in Flusspferd im Frauenbad, die alle zuerst in der Sendung „Früh-Stück“ auf SRF 2 Kultur ausgestrahlt wurden. Auch sie, schreibt der Verlag, „dauern in der mündlichen Umsetzung genau eine Minute. Umso erstaunlicher ist es, wie viel Welt und Mensch, wie viel Komik und Tragik Nielsen in dieser kurzen Form auf den Punkt bringt.“

Der ursprüngliche Sendeplatz und die Tatsache, dass Jens Nielsen (auch) Schauspieler ist, legen nahe, die Texte nicht nur als „Romane in Pillenform“ (Giorgio Manganelli) zu lesen, sondern auch als Dramolette oder eben Kurzhörspiele und – warum nicht – als Gedichte, oder als Comic Strips in Worten. So kann man sich beispielsweise an Winsor McCay erinnert fühlen, der in seiner Comic-Serie Dreams of a Rarebit Fiend („Die sonderbaren Träume des Feinschmeckers, der immer nur Käsetoast aß“, deutsch unter dem Titel Aus der Traumküche des Winsor McCay) in knapper Bilderfolge beunruhigende Traumvisionen entwarf.
Nielsen schreibt immer kurzweilig und überraschend, seine Texte sind witzig, aber nicht in jedem Fall lustig, da sie auch Trauriges berühren und hin und wieder Szenarien entfalten, die an Alptraum und Horror grenzen.

„Eigentlich geht es nur darum, den ersten Satz zu finden, zum Beispiel »Am Anfang stellt man vielleicht eine Faustregel auf«, und schon entwickelt sich eine Geschichte. Zumindest ist das so bei Jens Nielsen. Da wird das im Alltag absurd Erscheinende völlig normal. Ein Mann will Geld beziehen, doch die Schalterhalle der Bank ist zugewachsen mit Gras, die Bankangestellten auch. Als er das Geld aus dem Bankomaten holen will, wächst auch dort Gras, das schliesslich von einer Ziege gefressen wird. Einem anderen fällt auf dem Weg zur Arbeit eine Kastanie in den Kopf. Bald wächst daraus ein Baum, Wurzeln dringen durch den Körper des Mannes und halten ihn für immer fest im Asphalt. Die Natur dringt immer wieder durch und bringt so die mechanisch funktionierende Welt durcheinander.“ (Text: Verlag)

Die Geschichte „Frühförderung“ spielt mit der Idee, dass dem Bau eines Hauses immer ein schriftlicher Plan vorausgeht (weswegen es wichtig sei, richtig schreiben zu lernen). „In meiner Stadt zum Beispiel stehen Häuser die sind völlig falsch geschrieben / Man sieht es schon von außen / Die Wasaade / Das Tach“. Das ist kurz und knapp erzählt, ohne den Witz überzustrapazieren.
Der zündende Gedanke in „Mitmachen und trennen“, immer zu beherzigen, lautet: „Bitte trennen Sie Ihre Anfälle / Der Umwelt zuliebe“. Das ist schön ironisch, klar, aber die Vorstellung, dass Ordnung als Sublimierung der schlummernden – im schlimmsten (An)Fall – Barbarei gedeutet werden kann, ist wenig amüsant. Eine Arabeske über die domestizierte, gesellschaftlich gebundene Aggression und die darunter verborgene Angst.
Eine Welt aus Glas imaginiert die Geschichte „Transparenz“. Nielsen schreibt eigentlich von einer Tagesform, einer psychischen Disposition: lähmende Dünnhäutigkeit, Durchlässigkeit, und findet dafür starke Bilder: „Die Spreu vom Weizen zu trennen / Es geht nicht / Alles ist Spreu“. Die Kühe „zerspringen auf der Weide“ und in der Bäckerei „glitzert“ das Brot. Innerhalb des Tableaus ist das ein realistisches Erzählen, zugleich surreal – und als Befindlichkeitszeichnung schmerzhaft genau: „An solchen Tagen geht man vorsichtig durchs Leben / Wenn überhaupt“.
An vorletzter Stelle im Buch: „Verpasste Ziele“ – keineswegs so wehmütig und vergeblichkeitsgewiss wie die Überschrift vermuten lässt. Und zum guten Ende ein wahrhaftiges Zweipersonenstück, mit einem Er und einer Sie, „PIERCING II“. – Jens Nielsen ist alt genug, um sich der Bedrohung durch die „Pershing 2“ -Raketen zu erinnern, die die 70er und 80er Jahre prägte, und leider sind Dr. Strangeloves https://en.wikipedia.org/wiki/Dr._Strangelove Zeiten noch nicht vorbei. Der zauberhafte Dialog steht unter der Devise: Make love not war, und mehr ist dazu gar nicht zu sagen, das „Closed“-Schild ist zärtlich vorgehängt.

Flusspferd im Frauenbad gehört zur Sorte des Einfachen, das schwer zu machen ist. Die Mühe hat sich gelohnt – eine unbedingte Empfehlung.




Jens Nielsen, Flusspferd im Frauenbad. Kleine Erzählungen. 192 Seiten, Klappenbroschur. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2016. 17,50 Euro.
» Verlag

Eine Leseprobe mit neun Geschichten gibt es bei issu.com eine Hörprobe unter spoken-word.ch, (die Geschichte „Warten“ ist allerdings nicht im Buch enthalten).

Zum Autor
Jens Nielsen wurde 1966 in Aarau geboren. Während seiner Schauspielausbildung in Zürich begann er zu schreiben. Seither arbeitet er als freier Schauspieler, Sprecher und Autor. Zusammen mit Aglaja Veteranyi bildete Nielsen die Theatergruppe „Die Engelmaschine“. Von 2007 bis 2014 war Jens Nielsen Hausautor der Theaterformation Trainingslager. Zahlreiche seiner dramatischen Werke wurden im Theater gespielt oder am Radio gesendet. Seine Soloprogramme zeigt er auf Schweizer Kleinkunstbühnen.
In der »edition spoken script« außerdem erschienen: Alles wird wie niemand will (2009), Das Ganze aber kürzer (2012). – Weiteres auf jens-nielsen.ch des Autors.