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15. September 2017
Gunther Nickel
für satt.org
  »Blaupause« von Theresia Enzensberger

Theresia Enzensberger, Blaupause. Roman. 256 Seiten, gebunden. Hanser Verlag, München 2017. 22,00 Euro – auch als E-Book erhältlich.
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Beobachtungs­verhältnisse

Theresia Enzensberger erzählt in ihrem Debütroman Blaupause, das behaupten jedenfalls einige Rezensenten, „die Emanzipationsgeschichte einer begabten Frau“.[1] Als Studentin am Bauhaus in Weimar und Dessau kämpfe diese Frau, die den Namen Luise Schilling trägt, „um ihre Wahrnehmung als Gleichberechtigte“[2] und gegen die auch dort „gar nicht so verborgenen Reste von patriarchalem Konservatismus“.[3] Luise wirke bei diesem „Kampf einer jungen Intellektuellen um Anerkennung“, schwärmt Tomasz Kurianowicz, „durchweg menschlich und sympathisch“.[4] Das ist nicht zuletzt ein Grund für ihn, von einem „hochintelligente[n] Roman“ zu sprechen. Entsprechend lobt Annkathrin Bornholdt: „Dieser kluge Roman ist ein Plädoyer für eigenständiges Denken und Handeln.“[5]

Tatsächlich ist dieser Roman indes kein Plädoyer, sondern wirklich ein Roman. Auch deswegen ist er weder hochintelligent noch klug, sondern allenfalls erzählt eine hochintelligente, kluge Autorin von hochintelligenten, klugen Menschen. Doch, um ganz genau zu sein (und es gibt gute Gründe, hier ganz genau zu sein), erzählt in diesem Roman noch nicht einmal die Autorin, sondern sie läßt erzählen, nämlich von jener Frau, der sie den Namen Luise Schilling gegeben hat.

Diese Art der Perspektivierung ist ein erprobter, aber nur scheinbar unkomplizierter Kunstgriff. Wie vertrackt er in Wirklichkeit ist, wird deutlich, wenn man ihn mit Hilfe systemtheoretischer Begriffe Niklas Luhmannscher Provenienz rekonstruiert. Der Leser dieses Romans ist dann als Beobachter einer fiktiven weiblichen Figur, die von ihren Beobachtungen berichtet, ein Beobachter zweiter Ordnung, und das heißt, er „kann dort Kontingenzen feststellen, wo der Beobachter erster Ordnung glaubt, einer Notwendigkeit zu folgen oder ganz natürlich zu handeln“.[6] Stellt man noch in Rechnung, dass die Figur Luise Schilling als Kunstfigur natürlich weder beobachten kann noch über ein Bewusstsein verfügt, sondern nur Produkt von Entscheidungen einer Autorin ist, dann rückt der Leser noch eine Metaebene höher. Er ist dann ein Beobachter dritter Ordnung, einer, der beobachtet wie eine Autorin eine Kunstfigur beobachten läßt.

„Die Aufforderung zu einer derart unalltäglichen Beobachtungsweise“, schreibt Luhmann, „geht von den Kunstwerken selber aus [...]. Sie hat ihren ersten Anhaltspunkt im Hergestelltsein des Werkes, also in seiner Unnatürlichkeit. [...] Was damit erreicht werden soll, kann man in der Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts auch als Genuß bezeichnen.“[7] Das, was da genossen werden kann, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine „kunstvoll geschaffene Verdichtung von Beobachtungsverhältnissen“.[8] Wenn dem aber so ist, dann kann ein solcher Text schon deshalb kein Plädoyer sein, obwohl er gleichwohl wie ein Plädoyer gelesen und damit seiner Komplexität beraubt werden kann.

Die Beobachtung von Luise Schilling als fiktive Beobachterin dessen, was am Bauhaus in Weimar und Dessau geschehen ist, ergibt zunächst, dass sie dem Leser ihre Lebensgeschichte als Opfergeschichte andienen will: als Opfer patriarchalischer Verhältnisse. Diese werden nacheinander repräsentiert durch ihren Vater, den Weimarer Liebhaber Jakob, den Weimarer Bauhauslehrer Johannes Itten, ihren Bruder, ihren Dessauer Liebhaber Hermann, ihre Kommilitonen Karl und Augustin und schließlich den Bauhausgründer Walter Gropius. Da Luise Schilling nie in Larmoyanz verfällt (bzw. Theresia Enzensberger sie nie in Larmoyanz verfallen läßt), gewann ihre Geschichte für manche Rezensenten des Romans schnell etwas Einnehmendes, das sie zu Sympathieerklärungen verführt hat.

Niemand könnte es einer Luise Schilling, wäre sie ein Mensch, verdenken, dass sie ihre Geschichte aus ihrer Perspektive so erzählt, dass sie dabei in den Augen des heutigen Lesers gut wegkommt. Aber sie täte das im Rahmen ihrer Möglichkeiten, und in diesem Fall sind es die von Theresia Enzensberger gesteckten Möglichkeiten. Sie haben zum Beispiel zur Folge, dass Luise als Grund für ihr Interesse an einem Studium am Bauhaus lediglich anzugeben in der Lage ist, ihr Vater als Fabrikant von gusseisernen Pfetten habe „regelmäßigen Kontakt mit moderneren Berliner Architekturbüros [...], unter anderem dem von Peter Behrens“ (S. 9). Nach substanzarmen Erklärungen dieser Art noch ernsthaft, wie Tomasz Kurianowicz, von einer „jungen Intellektuellen“ zu sprechen, ist schon nachgerade drollig. Andreas Platthaus bezeichnet sie zwar als „begabt“, aber räumt zum Glück sofort ein: „Theresia Enzensberger lässt ihre Protagonistin zunächst wie den Backfisch erzählen, der sie ist. Inhaltlich ist das konsequent, aber schwer erträglich: die Sprache schwärmerisch, ohne jemals reflektiert zu sein. [...] Man könnte das als ironisches Signal der Autorin für eine subtile Selbsttäuschung ihrer Erzählerin betrachten, wenn es denn im Buch weitere Anhaltspunkte dafür gäbe.“

Einen solchen Anhaltspunkt könnte abgeben, dass sich Luise zwar gleich zu Anfang des Romans über das esoterische Brimborium, mit dem sich der Kreis um Johannes Itten abgab, abfällig äußert, aber keine zwei Seiten später und für die Dauer einer auf insgesamt 133 Seiten erzählten Zeit von immerhin zwei Jahren sich dann in eben diesem Kreis einträchtig bewegt. Das geht so weit, dass sie ihre Kleidung gegen eine braune Kutte eintauscht, dem unübersehbaren Markenzeichen aller Itten-Jünger in Weimar. Naturgemäß bringen Atemübungen, Fastenkuren und eine fragile Liebesbeziehung zu Jakob, die Luises Leben in dieser Zeit dominieren, diese ihrem Berufsziel Architektin nicht ein Stück näher. Das lässt die Entscheidung ihres Vaters, die Finanzierung dieser Studien nach zwei Jahren einzustellen, nicht unbedingt als untrüglichen und ohne jede Einschränkung tadelnswerten Beweis patriarchalischer Unterdrückung eines ganz und gar ernstzunehmenden weiblichen Emanzipationsversuchs erscheinen, denn mit diesem Emanzipationsversuch ist es bis dahin wahrlich nicht weit her.

Als einen anderen Anhaltspunkt für eine von der Erzählerin nicht bemerkte Selbstüberschätzung könnte man ein Detail werten, das schon deshalb überraschend ist, weil Kritiker wie Christoph Schröder den „ungeheuren Rechercheaufwand“ hervorgehoben haben, der „in diesem Text stecken“[9] müsse (auch Sabine Rohlof gelangte zu dem Befund, der Roman sei „offenbar gut recherchiert“[10]). Warum aber vermeldet Luise dann (auf S. 144), als sie sich mit Kommilitonen über die Eröffnungsfeier des Dessauer Bauhauses unterhält: „Hans Nanotek war auch da“ -- und ist sogleich „stolz darauf, etwas beitragen zu können“? Der Stolz auf solche Kenntnisse wäre nicht so irritierend, wenn sie den Namen dieses Journalisten wenigstens richtig geschrieben hätte und auch nicht nur versichern würde, sie habe über drei Jahre „obsessiv alles gelesen, was ich über Architektur“ in Büchern und Tageszeitungen in der Berliner Staatsbibliothek habe finden können. Doch kein Wort fällt darüber, was sie gelesen, was sie warum für gut und was warum für schlecht befunden hat. Statt dessen erfährt der Leser nur: „Irgendwann kannte ich die Namen der Kunstkritiker aller großen Zeitungen.“ Wie gesagt: Nicht einmal das stimmt.

Mit „Hans Nanotek“ gemeint ist nämlich Hans Natonek, der von 1917 an Redakteur der Leipziger Zeitung und des Leipziger Tageblatts war, 1926 als Feuilletonchef und stellvertretender Chefredakteur zur Neuen Leipziger Zeitung wechselte und unter anderem auch regelmäßig Artikel in der radikaldemokratischen Weltbühne veröffentlichte. Am 4. Dezember 1926 erschien sein Bericht „Die Eröffnung des Dessauer Bauhauses“, in dem er die Stadt Dessau für das „mit der ganzen künstlerischen Hingabe des Bauhauses Geschaffene“ beglückwünschte und bedauerte, „daß in viel größeren Städten die Geister schliefen, als die Möglichkeit bestand, das Bauhaus heranzuziehen. Das gilt vor allem für Leipzig.“[11] Drei Tage später folgte ein überraschend kritischer Kommentar – „Das problematische Glashaus“ – in dem es u.a. heißt: „Ist dieses geistvolle System von Gebäuden und sein Lehrsystem, das es verkörpert, notwendige Voraussetzung, um Siedlungshäuser zu bauen? Ist diese Belastung durch Theorie und Gesinnung, deren Wert außer Frage steht, tragbar in einer Zeit, die den Wohnungsanspruch hunderttausender Familien unerfüllt läßt? Das Riesenglashaus von Dessau, das annähernd eine Million städtischen Geldes gekostet hat, hätte für rund hundert Siedlungshäuser Raum. Wir sehen hier eine Gesinnung am Werk, der die Schaffung eines neuen Weltbildes wichtiger scheint, als die Schaffung neuer Wohnungen.“[12]

Auch Luise Schilling wird sich noch kritisch zum Bauhaus äußern, allerdings nicht sozialpolitisch argumentieren wie Natonek, sondern den unvollkommenen Funktionalismus der funktionalistisch intendierten Architektur von Walter Gropius angesichts von Stahlfenstern, die „nicht richtig schließen“ (S. 239), aufs Korn nehmen. Später geht sie noch weiter und verurteilt dessen architektonische Vorstellungen als „genau das, was den Leuten inzwischen als modern gilt: höher, größer, phallischer“ (S. 253). An die Stelle einer funktionalistischen tritt damit eine freudianisch grundierte feministische Kritik. Diese Entwicklung wird von ihr jedoch nirgends näher erläutert. Als missing link gibt es nur ihren unglaublichen Vorwurf, Walter Gropius habe Pläne von ihr für seinen Entwurf zur 1929 eingeweihten Dammerstocksiedlung in Karlsruhe plagiiert. Dieser Plagiatsvorwurf erstaunt nicht zuletzt deshalb, weil Luise Schilling zuvor selbst freimütig erklärt, konzeptionell an das angeknüpft zu haben, was von „Gropius [...] mit der Siedlung Törten [zwischen 1926 und 1928 in Dessau] ja schon vorgemacht“ worden sei (S. 175). Nachdem sie ihm ihre Pläne erstmals gezeigt hat, macht Gropius überdies „mehrere Verbesserungsvorschläge“, von denen sie einräumt, dass „viele [...] sinnvoll“ gewesen seien. Wie weit bei solchen Umständen von einem Plagiat überhaupt noch die Rede sein kann, lassen wir mal dahingestellt.

Ganz unabhängig davon, wie man ihren Plagiatsvorwurf bewertet, hat, sobald er in der Welt ist, jede weitere Kritik Luise Schillings an Gropius' architektonischen Entwürfen unweigerlich einen persönlichen Beigeschmack. Und auch deshalb, nicht nur wegen der diskursiven Dürftigkeit aller ihrer Ausführungen zu ästhetischen Fragen, mutet, was Rezensenten als bravouröse Emanzipationsgeschichte gelesen haben, beim Beobachten der Beobachtungen dieser Beobachterin so zwiespältig an wie die Naturemphase in einem Roman, der ebenfalls manchen Leser zu einer mehr als fragwürdigen identifikatorischen Lektüre verführt hat: Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther.[13]

Wie Goethe scheint es auch Theresia Enzensberger, der Erfinderin von Luise Schilling, gar nicht darum gegangen zu sein, eine völlig unproblematische Identifikationsfigur zu kreieren. „Sie ist mir“, gestand sie jedenfalls, „manchmal schon auf die Nerven gegangen, sie ist ein bisschen naiv.“[14] Dann aber ist, was manche Kritiker an ihrem Roman begeistert lobten, offenkundig nichts weiter als deren auf den Text projizierte eigene Weltanschauung.




[1] faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/buchkritik-theresia-enzensbergers-blaupause-15106556.html (Andreas Platthaus).

[2] tagesspiegel.de/kultur/roman-blaupause-mitten-im-jetzt/20065660.html (Christoph Schröder).

[3] welt.de/kultur/literarischewelt/article166680142/Eine-Frau-unter-Nerds-Gurus-und-Esoterikern.html (Richard Kämmerlings).

[4] zeit.de/2017/32/blaupause-theresia-enzensberger-debuetroman-sexismus (Tomasz Kurianowicz).

[5] ndr.de/kultur/buch/Theresia-Enzensberger-Blaupause,blaupause102.html (Annkathrin Bornholdt).

[6] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 104.

[7] Ebd., S. 112, 116.

[8] Ebd., S. 123.

[9] tagesspiegel.de/kultur/roman-blaupause-mitten-im-jetzt/20065660.html.

[10] berliner-zeitung.de/kultur/literatur/roman--blaupause---die-neue-frau-zwischen-bauhaus--koks-und-klassenkampf-28016544.

[11] Zit. nach Hans Natonek: Im Geräusch der Zeit. Gesammelte Publizistik 1914-1933. Hrsg. von Steffi Böttger. Leipzig 2006, S. 184.

[12] Ebd., S. 188.

[13] Vgl. dazu Dirk Grathoff: „Der Pflug, die Nussbäume und der Bauernbursche. Natur im thematischen Gefüge des Werther-Romans“. In: Goethe-Jahrbuch 102 (1985), S. 184-198.

[14] morgenpost.de/kultur/article211475959/In-den-Fussstapfen-des-Vaters.html.