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30. September 2017
Gunther Nickel
für satt.org
  Der Mann, der Verlorenes wiederfindet

Michael Köhlmeier, Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle. 160 Seiten, gebunden. Hanser Verlag, München 2017. 20,00 Euro – Auch als E-Book lieferbar.
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„Liebst du auf Lateinisch?“

Michael Köhlmeiers Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet handelt vom Heiligen Antonius. Da es zwei Heilige dieses Namens gibt und man beide – wie Christoph Schröder in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung – schon mal verwechseln kann, sei sogleich betont, dass Köhlmeiers Antonius nichts mit jenem zu tun hat, den Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald gemalt haben, also auch nichts mit dem Antonius aus E.T.A. Hoffmanns Elixiere[n] des Teufels und Gustave Flauberts Die Versuchung des Heiligen Antonius. Beziehen sich Bosch, Grünewald, Hoffmann und Flaubert auf Antonius den Großen, einen ägyptischen Mönch, der 356 starb, handelt Köhlmeier vom Heiligen Antonius von Padua (1195-1231). Er wurde nicht zuletzt dadurch bekannt, dass er einmal, als ihm Menschen nicht zuhören wollten, kurzerhand Fischen predigte.

Ein Volkslied, das Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihre Sammlung Des Knaben Wunderhorn aufgenommen haben, vermeldet das große Wohlgefallen, das diese Predigt bei den Adressaten gefunden habe, allerdings auch ihre vollständige Vergeblichkeit:

Die Predigt geendet,
Ein jedes sich wendet,
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben.
     Die Predig hat gfallen,
     Sie bleiben wie alle.

Die Krebs gehn zurücke,
Die Stockfisch bleiben dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predig vergessen.
     Die Predig hat gfallen,
     Sie bleiben wie alle. *

Gustav Mahler, der für Schabernack dieser Art immer zu haben war, hat sich bei seiner Vertonung von Des Knaben Wunderhorn das Volkslied über diese Fischpredigt nicht entgehen lassen. Auch Köhlmeier greift auf dieses Humoristikum zurück, jedoch nicht auf Kosten von Antonius. Bei ihm wird aus der Fischpredigt vielmehr eine besonders einfallsreiche und, wenn man so will, innovative Methode zur Verbreitung eines christlichen Anliegens: „Zu den Fischen habe er gepredigt“, heißt es über Antonius, „in Rimini, und die Fische hätten Wort für Wort seine Predigt mit ihren Mäulern nachgebildet, und Wochen danach habe ein Fischer einen Karpfen gefangen, von dessen Schnappen man Wort für Wort die Mahnungen des Heiligen habe ablesen können; mithilfe solcher Methoden sei die Botschaft des Evangeliums noch nie verbreitet worden.“

In der boshafteren Variante des Volkslieds steckt indes ein wahrer Kern, der auch in Köhlmeiers Novelle erhalten bleibt. Denn Antonius war beim Volk zwar ungeheuer beliebt, aber verstanden wurde er nicht. Dabei unternahm er alles, um in seinen Predigten verständlich zu sein.
„Hatte er es sich [...] leicht gemacht und lateinisch gesprochen? Nein, eben nicht.
Träumst du auf Lateinisch? Liebst du auf Lateinisch? Weinst du auf Lateinisch? Er habe in der Sprache eines jeden gesprochen.“
Die letzte seiner Predigten aber zeigt, dass jeder dazu befragte Hörer nur genau das gehört hat, was er gerne gehört hätte: Der eine glaubt, Antonius habe über Liebe gesprochen, der andere, das Thema sei der Hass gewesen. So findet zwar niemand göttliche Wahrheit, aber alle finden ihren Trost, und auf diese nicht befriedigende, jedoch wirkungsvolle Weise rettet Antonius vermutlich so manche Seele davor, verloren zu gehen.

Die Aktualität dieses Stoffes im Reformationsjahr 2017 liegt auf der Hand, blieb aber sowohl von Christoph Schröder als auch von Wiebke Porombka, die das Buch in der Frankfurter Allgemeine[n] Zeitung besprach, völlig unbemerkt: Antonius ist ein wahrhaft lutheranischer Geist, und nicht von ungefähr ist er wie Luther von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Schriften von Augustinus geprägt. Mit den Vertretern der Amtskirche steht Antonius beständig im Konflikt, und sie sind es auch, die ihm, als er am Ende seiner letzten Predigt zusammenbricht und im Sterben liegt, jede menschliche Hilfe verweigern. So nimmt, als ein kleiner Mönch Antonius Wasser reichen will, der Prior ihm den Wasserschlauch aus der Hand und leert ihn auf das Pflaster der Piazza.
„Das hier, sagte er, sei eine Handlung Gottes, in die der Mensch nicht eingreifen dürfe, auch nicht in vermeintlicher Nächstenliebe.“

Es gibt dazu eine Vor- und ganz am Ende der Novelle eine versöhnlich stimmende Nachgeschichte, in der der kleine Mönch nochmals eine wichtige Rolle spielt. Zur Vorgeschichte gehört unter anderem Antonius' Hadern mit Gott darüber, dass es das Böse in der Welt überhaupt gibt. Das gemahnt an die durch das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 ausgelöste Theodizee-Debatte, in der Gottfried Wilhelm Leibniz die Welt trotz aller Übel zur besten aller möglichen Welten erklärte, während Voltaire für diese Ansicht in seiner satirischen Novelle Candide oder der Optimismus nur noch Hohn und beißenden Spott übrig hatte. Auch diesen Konflikt trägt Antonius bereits aus, nur noch nicht öffentlich, sondern mit sich selbst, vor allem in Auseinandersetzung mit dem biblischen Buch Hiob. Er ist damit ein faszinierender Vorbote der Moderne. Darauf novellistisch aufmerksam zu machen ist im Reformationsjahr 2017 mindestens ein kleiner Geniestreich.