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23. Oktober 2017
Gunther Nickel
für satt.org
  Robert Menasses Roman Die Hauptstadt

Robert Menasse, Die Hauptstadt. Roman. 459 Seiten, gebunden. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 24,00 Euro. - Auch als E-Book lieferbar
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„Deutsche Unterwäsche ist das Beste für Auschwitz!“

Robert Menasses Roman Die Hauptstadt

Schon seit geraumer Zeit reist Robert Menasse durch die Lande und wirbt bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit für „das absolut Neue, eine nachnationale Demokratie“ in Europa.1 Einige Stationen dieses Werbefeldzugs dokumentiert ein Band mit Essays, Dank- und Preisreden, der 2014 erschienen ist.2 Schon drei Jahre zuvor, kurz nachdem Menasse seinen Werbefeldzug begonnen hatte, lobte kein Geringer als Hans Magnus Enzensberger ihn schelmisch als „bemerkenswert“ und fügte mit Blick auf die realexistierende Europäische Union hinzu: „Radikaler als seine [i.e. Menasses] Verteidigung ließe sich ein Angriff auf die Mechanismen der Union kaum formulieren.“3

Einige Seiten zuvor hatte Enzensberger bereits berichtet, Menasse verfolge „den Plan, einen Roman zu schreiben, zu dessen Hauptfigur er einen Beamten der Union auserkoren hat.“ Enzensberger war darüber mehr als entzückt: „Das ist ein heroisches Projekt, zu dem man ihm nur gratulieren kann; denn es bedeutet den Abschied von den narzisstischen Fingerübungen, mit denen so viele zeitgenössische Erzähler beschäftigt sind.“4 Seitdem wartet die literarische Welt auf Menasses Roman, und nun ist er endlich erschienen.

Interessant an ihm ist, dass er zwei Lesarten ermöglicht: In der einen ist er von der ersten bis zur letzten Seite eine Satire, in der anderen ist er das nicht, jedenfalls nicht ausschließlich. Spielen wir beide Lesarten einmal exemplarisch durch.
In der ersten ist es schon ein Witz, aus Anlass eines nicht so ganz genau datierbaren Geburtstags der EU eine Feier auszurichten, in der Auschwitz als eine Art europäischer Gründungsmythos fungieren soll. Man stelle sich also vor, wie Polen, Tschechen, Niederländer, Franzosen, Griechen, Spanier usw. so richtig starke EU-Gemeinschaftsgefühle verspüren, wenn sie an die im Namen Deutschlands verübte Massenvernichtung von Millionen Menschen denken. Die Frage, ob derlei Regungen nicht sehr unwahrscheinlich sind, wird gar nicht erst erörtert.
Man beginnt sogleich mit Planungen zur Umsetzung der Idee, und also, ganz so wie sich das für einen EU-Beamtenapparat gehört, mit einer sondierenden Dienstreise nach Auschwitz. Mithin erhält der österreichische EU-Beamte Martin Susman eines Tages eine E-Mail aus dem ehemaligen Vernichtungslager: "Ich freue mich, Sie schon bald in Auschwitz begrüßen zu dürfen!“5
Das allein ist ein Satz, der es in sich hat. Doch es kommt noch besser. Denn in Auschwitz ist es Winter. „Wir wollen auf keinen Fall“, steht folglich auch in der E-Mail, „dass Sie krank werden in Auschwitz!“6 Dafür ist Auschwitz schließlich weltweit vor allem bekannt: dass man dort krank werden, sich zum Beispiel erkälten kann. Es empfiehlt sich deshalb, sich warm anzuziehen, auf jeden Fall wärmende Unterwäsche einzupacken. „Deutsche Unterwäsche ist das Beste für Auschwitz!“7

Ge-e-mailt, getan: Martin Susman macht sich auf, Unterwäsche zu kaufen, deutsche Unterwäsche. Man empfiehlt ihm einen Laden, der den schönen Namen „Fronde Dessous“ trägt, und dort wiederum empfiehlt man ihm Angora-Unterwäsche. „Aber aus Deutschland, das heißt: garantiert ohne Tierquälerei.“8 Das Beste aber ist: „Die Wäsche entspricht auch schon der neuen EU-Richtlinie für Unterwäsche.“ Die ist noch besser als die in alle Amtssprachen übersetzten Pizza-, Schnullerketten- und Seilbahn-Verordnungen9 zusammengenommen, denn: „Es geht um das Brennverhalten der Unterwäsche, das ist jetzt geregelt.“ Ist die Wäsche, fragt daraufhin Martin Susman, „so heiß“? Nein, das ist sie natürlich nicht (sie ist ja aus Deutschland). Es geht um Raucher, „die müssen ja immer im Freien stehen, in der Kälte. Und da gibt es jetzt diese EU-Richtlinie: damit sich die Raucher nicht selbst anzünden! [...] Oder im Bett.
Im Bett?
Ja, wenn Raucher mit einer Zigarette ins Bett gehen und einschlafen –
Dann brennt das Bett –
Ja, aber diese Unterwäsche nicht. Das ist geregelt! Sehen Sie, hier: ‚Brennverhalten von Unterwäsche gemäß EU-Richtlinie‘ …"

Es fällt mir schwer, die ganze Passage nicht von Anfang bis Ende als Satire zu lesen. Es gibt aber Erklärungen Robert Menasses, die eine andere Lesart verlangen. Tatsächlich spricht er sich für eine europäische Erinnerungskultur aus, die Ausschwitz ins Zentrum rückt. Das geht so weit zu fordern, in Auschwitz „die ideale Stadt der Zukunft“ als Hauptstadt Europas zu errichten.10 Eben diese Forderung erhebt in seinem Roman Die Hauptstadt der – fiktive – Professor Alois Erhart in einem Thinktank der EU. Wie Menasse fordert er eine „nachnationale Demokratie [...], in der es keine Nationalökonomie mehr gibt“11, die „Weiterentwicklung zu einer Sozialunion, zu einer Fiskalunion – also die Herstellung von Rahmenbedingungen, die aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souveräner, gleichberechtigter Bürger machen würde“.12 Welche Schwierigkeiten dieses erinnerungspolitische Projekt mit sich bringen würde, mag man sich gar nicht ausdenken. Diese Frage beschäftigt Menasse aber so wenig wie seinen Professor Erhart. Und Menasse sieht auch kein Problem darin, dass für ein solches Vorhaben in Europa aller Wahrscheinlichkeit nach keine demokratische Mehrheit zu bekommen wäre. Die „Diskussion der Zukunft [...] wird zu Entscheidungen führen müssen, die [...] in der schrittweisen Annäherung an wirkliche europäische Demokratie – nicht mehrheitsfähig sind“.13 Solche Entscheidungen gibt es bereits zuhauf, nur führen sie bislang noch nicht zu einer Annäherung an etwas, was man eine europäische Demokratie nennen könnte. Menasse hat nicht Recht, wenn er behauptet, es gäbe „auf dem Immobilienmarkt nichts, das auch nur entfernt nach einer Blase ausschaut“, „allen Schulden“ stünden „Guthaben gegenüber“ und „keine Bank“ drohe „zu krachen“.14 Er räumt aber aus anderen Gründen fragend ein: „Ich widerspreche mich?“, und antwortet: „Ich denke nur nach. Ich werde geradezu euphorisch? Ach, das gleicht sich dann wieder mit meinen Ängsten und Befürchtungen aus.“ Aus dieser verbliebenen Unsicherheit, aus dem gewissermaßen nur probeweisen Entwurf einer radikal proeuropäischen Zukunft resultiert vermutlich auch die Möglichkeit, den Roman als Satire lesen zu können, und zwar nicht nur als Satire auf die gegenwärtige EU mit ihrem – wie ihn Enzensberger nennt – „Regulierungswahn“15, sondern auch auf die gutgemeinte und – im doppelten Wortsinn – bedenkenswerte Idee, einen wirtschaftlich und kulturell derart heterogenen Raum wie das gegenwärtige Europa in naher Zukunft in eine postnationale Demokratie überführen zu wollen.

1. Robert Menasse, Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas. Zsolnay, Wien 2012, S. 104.

2. Robert Menasse, Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa. Suhrkamp, Berlin 2014.

3. Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Suhrkamp, Berlin 2011, S. 50. Enzensberger bezieht sich auf Menasses Essay „Populismus zerstört Europa“, der in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 20. Mai 2010 erschienen ist.

4. Ebd., S. 33.

5. Robert Menasse, Die Hauptstadt. Suhrkamp, Berlin 2017, S. 101.

6. Ebd.

7. Ebd., S. 102.

8. Ebd., S. 109.

9. Auszugsweise nachzulesen und kommentiert in: Sophia Gierke, Alles Banane. Schwachsinn aus Brüssel. Eulenspiegel, Berlin 2014.

10. So in einem Interview, das Peter Riesbeck mit Robert Menasse geführt hat (Frankfurter Rundschau, 18. September 2018).

11. Wie Anm. 5, S. 389.

12. Ebd., S. 392.

13. Wie Anm. 1, S. 69.

14. Ebd., S. 92.

15. Wie Anm. 3, S. 22.