Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




10. Oktober 2017
Robert Mattheis
für satt.org
  Das Kartell

Don Winslow, . Roman. 832 Seiten, broschiert. Droemer Knaur, München 2017. 12,99 Euro. – Auch als E-Book lieferbar.
» Verlag | amazon


„Die Lösung
liegt nicht
in Mexiko“

Das Kartell von Don Winslow

Lassen Sie mich vorab etwas versichern: Mit dieser Rezension verbinden sich für mich weder irgendwelche beruflichen Vorteile, noch bin ich mit einer der involvierten Personen – Autor, Lektor, Verleger, andere Rezensenten – in irgendeiner Form verbandelt. Ich bin nicht einmal Rezensent!
Das Exemplar von Don Winslows Das Kartell, das dieser Besprechung zugrunde liegt, habe ich zu handelsüblichen Bedingungen erworben, sogar ohne jede Absicht, etwas darüber zu schreiben. Ich habe den vollen Preis bezahlt, es haben keine Seiten gefehlt, alles bestens.
Zuvor habe ich bereits ein anderes Don Winslow-Buch gelesen, der Titel war etwas wie Die Sprache des Feuers. Ich könnte das nachsehen, aber ich nehme an, Ihnen ist es letztlich auch egal.
Zu Don Winslow, und nur darauf kommt es hier an, habe ich mir bereits ein Urteil gebildet. Ich finde, dass er phantastisch pageturnerisch schreibt.
Ich gehöre nicht zu den Menschen, die gerne lesen. Ich bin sprachsüchtig, aber auf eine Weise, die nicht dazu verführt, sich von früh bis spät mit Buchstaben vollzustopfen. Trotzdem, Don Winslow hat eine Syntax entwickelt, die man schnell in sich hineinflutschen lassen kann, wie Spaghetti.
Um das klar zu machen: Das ist etwas völlig anderes als die Gabe eines Cormac McCarthy. McCarthy ist ein Dichter. Winslow dreht Filme in kurzen Sätzen. McCarthy ist unheimlich und uns allen ein paar Schritte voraus. Seine besten Figuren haben etwas handfest Dämonisches, sie würden, gäbe es noch eine funktionierende Literatur, zu ihrem festen Bestand gehören, wie Käpt’n Ahab, der blutverschmierte Macbeth oder Don Quixote. McCarthy ist wie Marlon Brando, vielleicht sogar ein entfernter Verwandter Shakespeares; ein Gesegneter. Don Winslow ist einer von uns.
Wie uns, die wir ja auch meistenteils die Schöpfungen minderer Geister sind, eignet seinem Personal oft etwas beinahe Läppisches, etwas Fernsehserienhaftes. Ich drücke mich nicht gut aus, denke ich, aber seine Ladys zum Beispiel sind aus Platitüden zusammengeschweißt, sollen dabei aber unwiderstehlich wirken. Das haut nicht wirklich hin.
Gleiche Einwände gelten für Art Keller, den „Killer Keller“, Held des 800-Seiten-Epos‘.
Mit der Waffe geht er um wie sein Erfinder mit der Tastatur, aber eine Schusswaffe ist nun einmal nichts Magisches, sondern ein Stück elaborierter Technik.
Winslows Figuren sind klar, geradlinig, aber auch ein wenig fad. Ihnen fehlt einfach das Unterbewusstsein. Sie haben sicher von Sigmund Freud gehört und könnten mir wahrscheinlich ein paar interessante Sachen über den Wiener Ur-Analytiker sagen – umgekehrt wäre das aber eher nicht der Fall.

Es gibt zum Kartell einen Vorgängerband [Tage der Toten, Anm. d. Red.], den ich nicht gelesen habe. Ich weiß, dass es Kritiker gibt, die der Ansicht sind, man müsse jeden Wim Wenders-Film gesehen haben, bevor man einen einzigen verreißen dürfe, aber das halte ich für Blödsinn. Jedes Werk steht für sich. Kann es denn sein, dass ich, bevor ich mir ein Urteil über Krieg und Frieden erlauben darf, erst den ganzen Dostojewskij gelesen haben muss, weil man Tolstoi ohne seinen großen Antipoden einfach nicht verstehen kann? Muss einer, bevor er feststellt, dass ich keine vernünftigen Rezensionen schreiben kann, mit allen meinen Familienmitgliedern gesprochen und meine sämtlichen Tagebücher studiert haben?
Diese Art von pseudowahnsinnigem Denken, dieser entgleiste Akademismus hat uns in die Situation gebracht, in der wir uns heute befinden: dass wir uns einer Kritik gegenüber sehen, die zwischen rein emotionalen Moraltrompetenstößen und erkennbar mafiösen Hintergrundstrukturen erfolgreich die Balance hält, auf dass nichts sich bewege. (Beachten Sie bitte, wie hintersinnig ich das Wort „erfolgreich“ platziert habe!)

Für Don Winslows Kartell sprechen in meinen Augen zwei Dinge. Das erste: Der Thriller lässt sich prima weglesen, am Strand oder in der Hängematte; im Sessel oder auf der Couch mit Sicherheit auch. Das Buch ist spannend geschrieben, gut gebaut, vielleicht hier und da etwas langatmig in den Rückblicken auf die Leben der Protagonisten – hier spielt hinein, dass die Figuren doch arg aus Plastik sind, manche aus bösem Plastik, andere aus gutem. Trotzdem, wer begeistert sich für die Lebensläufe von Plastik, auch wenn sie angereichert sind mit Exotismen, Brutalismen und profunden Rechercheergebnissen?
Das Buch enttäuscht also auf keinen Fall gehobene Unterhaltungsbedürfnisse.
Wer gedacht hat, es handele sich um eine feinsinnige Charakterstudie, wird enttäuscht sein, sollte in Zukunft aber die Klappentexte lesen, bevor er das Portemonnaie aus der Tasche zieht.
Das Zweite, was unbedingt für das Buch spricht, ist seine Blutrünstigkeit – keine übersteigerte, dem umsatzgeilen Hirn eines Sensationsautors entsprungene Blutrünstigkeit, sondern eine höchst reale, von der Wirklichkeit selbst überzeichnete. Winslows eigentlicher Held nämlich ist der Drogenkrieg, der weite Teile Mexikos in eine Zone verwandelt zu haben scheint, die sich vor Syrien, Afghanistan und dem Irak nicht zu verstecken braucht. Als hätte hier der IS seine mörderischen Großtaten in aller Ruhe unter den fest zusammengekniffenen Augen der Weltöffentlichkeit für den Einsatz im Nahen Osten geprobt, so präsentiert sich dieses Mexiko, ein staubiges, trauriges Land, auf das jeden Tag ganze Lieferwagenladungen von Toten ausgekippt werden. Das Einzige, was die Opfer getan haben: sie haben eine Frage gestellt; die Wahrheit gesagt; waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie wissen selbst nicht, warum sie ermordet wurden.
In Mexiko haben sich die Tore der Hölle aufgetan. Die Apokalyptischen Reiter preschen mit Sturmhauben durchs Land. Ihre Pferde haben sie gegen Pick-ups eingetauscht. Bezahlt werden sie von den Zetas oder dem Sinaloa-Kartell. Oder von der mexikanischen Regierung. Oder von der US-amerikanischen. Sie übergießen ihre Opfer mit Benzin oder schneiden sie bei lebendigem Leibe auseinander. In Mexiko ist Splatter kein Kinogenre, sondern Alltag. Eine unerschrockene, unverfrorene Publikation wie der „Blog del Narco“ zeigt den Horror unzensiert, machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst.
Das alles zeigt Don Winslow, und wenn sein Schmöker ein Sprungbrett ist für eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem kaputten Land, dann hat er seinen Job getan.
Wie Art Keller, der schmutzige Killer mit den reinen Motiven.