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8. Oktober 2018 | Meinolf Reul für satt.org |
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Konzeptliteratur
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Bei einem Mara Genschel gewidmeten und von ihr arrangierten Abend in der Berliner Raucherkneipe Rumbalotte trat ein Mann in weißer Malocherkluft vor, maulte: nicht mal in Ruhe sein Bier trinken könne man! Er sei vom Abriss, und Genschel rede Grütze.
'Im Abriss' arbeitet aber auch Mara Genschel. War ihr Debüt Tonbrand Schlaf (2008) noch ein vergleichsweise konventioneller, wenn auch formal avancierter, Gedichtband, so kann die seit 2012 im Eigenverlag erscheinende Referenzfläche als Prototyp Genschelscher Demolierungskunst gelten. (1) Die reduktionistischen Texte der Referenzfläche weisen diverse Eingriffe auf – handschriftliche Ergänzungen / Kommentare, Überschreibungen, Überklebungen, Durchstreichungen –, die ihr Textsein resolut in Frage stellen, es aber auch fixieren. Alles, was dasteht, könnte vielleicht auch nicht dastehen, und doch: die gestrichenen und geixten Wörter sind auf dem Papier, beharrlich. Die Negation ist positiv vorhanden, das Ausradierte hat eine Kerbung hinterlassen, das Kaputte zeigt sich intakt. Die Begegnung der Texte mit ihrer Verneinung hat sie auch zäh gemacht und hat sie Witz gelehrt. Der sprachliche und formale Extremismus Mara Genschels zählt zum Lustigsten, was die deutsche Literatur zu bieten hat.
In Genschels Werk – aber den Werkbegriff würde sie ablehnen, also lieber: Im Kontext ihres Machens und Tuns ist die Bedeutung der Referenzfläche, in der alles aufs Spiel gesetzt wird, was Lyrik ausmacht, kaum zu überschätzen, weil hier zum ersten Mal jene Ästhetik des sich behauptenden Zweifels entfaltet ist, die alle ihre künstlerischen Äußerungen seither prägt, gleichviel ob es sich um die im engeren Sinn literarischen Arbeiten oder um ihre Lesungen und Performances handelt.
Mara Genschel, Gablenberger Tagblatt. 184 Seiten, broschiert. Brueterich Press, Berlin 2017. 20,00 Euro
Referenzfläche, inzwischen auf fünf Teile angewachsen, wurde in zunächst je fünfzig Exemplaren hergestellt und zum Selbstkostenpreis von 6.50 Euro vertrieben. Die Erstauflage und eine zweite Auflage, wieder zu je fünfzig Exemplaren, waren beide schnell vergriffen. Mara Genschel hat dann ein Leihsystem etabliert, außerdem sind Ausschnitte der Referenzfläche auf ihrer Website zu sehen. |
Gablenberger Tagblatt, Genschels jüngstes Buch, ist eine konsequente Weiterentwicklung und Transponierung in ein größeres Format des mit der Referenzfläche Begonnenen; dieselbe schöpferisch-ironische Bezweiflungsenergie ist am Werk, schafft und zerschafft den Text.
Gablenberger Tagblatt trägt keine Genrezuordnung, es sei denn man nähme „Tagblatt“ wörtlich und läse es – die vier (leeren) Kolumnen des Umschlags mögen dazu verleiten – als Zeitung. Ein auch nur flüchtiger Blick ins Tagblatt zeigt, dass das unsinnig ist. Ein Gedichtbuch ist es ebensowenig. Hier wird nicht gedichtet.
Schon mit der ersten Seite betritt, wer liest, den fiktionalen Raum. Die sogenannte Seite „1“ ist tatsächlich nämlich die fünfte des bis auf märchenhafte „1001“ Seiten paginierten Bandes. Unnötig zu erwähnen, dass dieser Umfang nicht erreicht wird: nach hundertvierundachtzig Seiten ist Schluss – für eine minimalistische Schriftstellerin wie Mara Genschel eine immer noch verdächtig hohe Seitenzahl.
Die fiktive Paginierung ist der realen Seitenzahl erst um vier, dann drei, dann um eine Seite hinterher, ab Seite „99“ aber um eine, dann drei, schließlich 820 Seiten voraus.
Die Seiten „12“, „63“, „64“, „97“, „98“, „131“ und „132“ fehlen. Diese Unregelmäßigkeiten fallen zunächst nicht auf; erst beim Sprung von Seite „180“ zu Seite „998“ – vom Gemälde „Häschen an der Wand“ zu „Der Heiraths-Kandidat“ – regt sich Misstrauen.
Das Ausgangsmaterial, mit dem Genschel arbeitet, ist der reale oder erdachte Katalog eines Kunsthändlers. Seine Substanz wird von Beginn an radikal ausgedünnt, seine Hauptfunktion ist die Dysfunktion. Man muss sich wohl ein antiquarisches Stück vorstellen, das altertümliche C (für Z) deutet es an: Es begegnet in den Namen der Werkgruppen, die jeweils, allerdings nicht durchgängig, am oberen Seitenrand vermerkt sind und im besten Fall ansatzweise beschreibend ausfallen, meist aber leer bleiben, weil die Künstlernamen oder Sujets so weit in die Ferne gerückt sind, dass sie sich gänzlich in Dunst auflösen: „Schiffs-Scenen“, „Mutter und Kind“, „Figur“, „Schottischer Bauer n. Liebchen“.
Die eigentlichen Werktitel sind darunter gesetzt – sie duplizieren die kargen und ins Leere laufenden Angaben der Werkgruppen. Die katalogisierten Werke selbst werden ausgespart. An Stelle der Abbildungen weisen die Seiten einen Platzhalter auf, einen 6 x 3 cm großen Rahmen. Ist aus dem Fehlen des Abbilds zu schließen, dass die behauptete Vorlage, also das jeweilige Original, gleichfalls imaginär ist?
Nach Seite „134“ (131) bricht der Katalog-Bildteil ab; es schließen sich sechsundzwanzig Seiten mit (Internet-)Recherchenotizen an, die sich vor allem auf Kunst beziehen, aber nicht nur; so werden z.B. auch Cookie-Richtlinien zitiert oder ein Fundstück aus einem Blog: „Uns bleibt einzig zu hoffen, dass sich die Maya verrechnet haben“.
Gab sich der Abbildungsteil 'nackt', so zeigt dieser Such-Einschub 'die Knochen'. Es folgen dann noch ein kurzer „Kreativteil“ und ein Dutzend nicht näher bezeichneter Seiten.
Dem Pseudo-Katalog ist ein Pseudo-Kommentar zugeordnet. Dieser ist vollständig in Fußnoten gefasst – 159 an der Zahl – und unterlegt den Haupttext als eine mit der Bildspur nicht synchronisierte Tonspur. In diesen Fußnoten erzählt Genschel eine hanebüchene Geschichte um ein Ich, das sich bald als Schriftstellerin zu erkennen gibt, die wir, wie in einer Homestory, bei ihren alltäglichen Routinen begleiten: Sie geht spazieren, widmet sich der Zeitung, besonders deren Kreativteil („WIEDER war mein Gedicht nicht abgedruckt, sondern durch ein anderes, ergo schlechteres, ersetzt worden“), liest Bücher (Hannah Arendt, Gilles Deleuze werden zitiert), kauft Brötchen, trinkt Kaffee oder Tee, reibt sich den Feinstaub aus den Augen. Ein „Fundstück“ spielt eine wichtige Rolle, dazu ein sogenanntes Pflanzenbuch, auch ein Schiffsunglück, bei dem einem das Floß der Medusa ebenso in den Sinn kommt wie die Havarien der Flüchtlingsboote im Mittelmeer.
Ein beträchtlicher Teil des Fußnotentextes ist durchgestrichen, vielleicht um das zuerst Geschriebene neu zu formulieren, vielleicht um es zu verwerfen oder seine Vorläufigkeit anzuzeigen. So oder so ist die Entwertung beim Lesen aber unwirksam, unter Umständen wird man das Durchgestrichene erst recht lesen wollen, und dann zum Beispiel auf folgendes Zitat stoßen, das die Doppelbödigkeit und den politischen Subtext des Unternehmens Gablenberger Tagblatt demonstriert: „Die Aufgabe extremistischen Schreibens ist es, den Ruf nach einer Gerechtigkeit der Zukunft weiterzuleiten. Von nun an kann Gerechtigkeit es sich nicht mehr erlauben, nur zurück zu schauen oder in Knechtschaft gegenüber sklerotischen Modellen und ihrer Modifikationen (ihrer ‚Zukunft’) gebunden zu bleiben. Eine Gerechtigkeit der Zukunft hätte den Willen zum Bruch zu zeigen.“
Diese verschiedenen Elemente – Katalog-Versatzstücke, Binnenerzählung, Zeitung – sind nun auf unterschiedlichste Weise miteinander verknüpft, werden verschoben, permutiert und entziehen dem Text in einem fort den Boden, was typographisch auf schlagende Weise abgebildet ist, sofern man die Durchstreichungen als abgesackte Schreiblinien interpretiert (Hinweis von Lilian Peter). Das auf den ersten Blick überschaubare Text(seiten)geschehen entpuppt sich als vertracktes, unauslesbares Vexierspiel.
Literatur treiben unter den Bedingungen des Kapitalismus – für diesen Zwiespalt hat Mara Genschel ein waches Bewusstsein. Die Preiskalkulation der Referenzfläche zeigte bereits deutlich ihre Geringschätzung für die Monetarisierung von Kunst. Auch das Gablenberger Tagblatt ist für ein Literatur-Kunst-Objekt nicht teuer, der Verlagswerbung zum Trotz („Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“). Andererseits braucht es Geld. 2014 gründete Genschel daher mit mehreren Kolleginnen ein (oder eine Art) Kollektiv, unter anderem mit dem Ziel, Preisgelder (wenn vorhanden) solidarisch untereinander zu teilen. Sie hat in ihrer Rede „Selfies mit Preisgeld“ dies wackere Modell einer Umverteilung dargelegt, die in einer Gruppe von Leuten funktioniert, in der großen Unsolidargemeinschaft aber Utopie bleiben muss.
Ein kapitalistischer Mikrokosmos ist natürlich auch der Literaturbetrieb, der zum Beispiel in jedem Herbst zur Buchmesse in der Bankenstadt Frankfurt am Main nicht den besten deutschsprachigen Roman des Jahres kürt, sondern den bestvermarktbaren.
Wer schreibt und veröffentlicht, muss sich notgedrungen in ein Verhältnis zum Betrieb setzen: er fordert Konzessionen. Über diese Frage nach Haltung hat Mara Genschel ein komisches Buch gemacht, Cute Gedanken (ebenso wie das Gablenberger Tagblatt im Jahr 2017 veröffentlicht). Es ist eine Literaturförderungsgroteske, die auf Textnachrichten und Notaten basiert, die Genschel während eines Aufenthalts in den USA in ihr Mobiltelefon tippte, und die von dessen (englischer) Autokorrekturfunktion zerschossen wurden.
Der Sog in Richtung Konsens, heißt es in Cute Gedanken, lässt sich nur durch Negation stören:
Der Dog, der Dog in Richtung
Konsens, Richtung
Representation last such nur
stören, vielleicht geringfügig
und kurz I ns Straucheln
bringen, dutch Negation. Ich
weiß das schon!
„Mara Genschel muss man hören“, befand ihr Kollege Christian Schloyer (zitiert im Klappentext zu Tonbrand Schlaf). Das sagt sich leicht. In der Rumbalotte drehte sie ihren Gesprächspartnern das Mikrophon auf und stellte ihres stumm, und bei der Präsentation des Gablenberger Tagblatts im Berliner Literaturhaus Lettrétage schien sich ihr Vortrag im suchenden Durchblättern des Buches zu erschöpfen, begleitet von forschen oder forschenden Blicken ins hinlauschende Publikum, sporadischem, zerstreutem Vorlesen, Schlucken aus einer Bierflasche und dem Zurückstreichen einer widerspenstigen Haarsträhne. Die solcherart heruntergestrippte Lesung entfaltete dann aber doch, immer im Geist der Armut, eine überraschende Opulenz und Intensität, als die Dichterin erst eine Melodika umständlich hervorkramte, auf der sie, um Zäsuren anzudeuten, einen je gleichen schwachen Ton blies, und dann, in die gespannte Stille hinein, zu singen anhob, ganz leise, in absurdem Diskant, ins Unhörbare verebbend, urkomisch und herzzerreißend, auf die Choralmelodie von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Wer es erlebt hat, wird es lange nicht vergessen.
Der Auftritt in der Lettrétage war eine szenische Aktion, ein eigenwilliger Kommentar zu dem an jenem Abend so weit wie möglich verweigerten Text.
„Viele Dichter kleben an der Gegenwart, sind zynisch, im besten Fall ironisch, Hochseilartisten, keine Gläubigen“, schrieb der Literaturmann Joachim Sartorius vor einiger Zeit verdrießlich. Mara Genschel muss sich nicht gemeint fühlen; sie arbeitet aber seit Jahren an einer Literatur, die einen Anhänger traditioneller Formen mindestens stören, wenn nicht gar – Kritiker Michael Braun bezeugt dies für einen Auftritt Genschels in Stuttgart – „auf die Palme bringen“ wird: eine ungemütliche Literatur.
Mara Genschel muss man lesen.
Anmerkung zu den zitierten Tweets:
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