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22. Februar 2021
Gerald Fiebig
für satt.org

»türken, feuer« von Özlem Özgül Dündar

Das Hörspiel des Jahres 2020 – und warum jede Schulklasse in Deutschland es hören sollte.

Seit 1988 gibt die Akademie der Darstellenden Künste alljährlich im Januar das Hörspiel des Jahres bekannt. Die Jury wählt es aus den zwölf Produktionen der ARD-Sender (und inzwischen auch von österreichischem und Schweizer Rundfunk), die sie im abgelaufenen Jahr zu Hörspielen des Monats gekürt hat. Die Tradition einer öffentlichen Preisverleihung im Literaturhaus Frankfurt wurde heuer von der Corona-Pandemie unterbrochen. Für das interessierte Publikum erweist sich das aber sogar als Vorteil. Statt mit einem Festakt für knapp 100 Gäste wird das Hörspiel des Jahres 2020 in einem Podcast gewürdigt, der einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist. Thomas Böhm, Macher der RBB-Sendung »Literaturagenten«, spricht in der Sendung nicht nur mit Preisträger*innen und Jury. Der knapp 45-minütige Podcast reißt alle Hörspiele des Monats aus dem Jahr 2020 kurz an. Hörproben und Jurybegründungen sowie Links zum Hören der kompletten Stücke finden sich auf der Website der Akademie.

Der Überblick zeigt zweierlei eindrucksvoll: Einmal, dass das Hörspiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk aktuelle gesellschaftlich-politische Themen auf höchstem künstlerischem Niveau verhandelt. Zumindest, was diese Seite der Rundfunkarbeit angeht, kann man das Geld der Gebührenzahler*innen getrost als gut investiert betrachten. Dann aber auch, dass das Hörspiel auch nach 100 Jahren Radio und digitaler Revolution immer noch die intermediale Kunstform par excellence ist. In keinem anderen Medium kann so geschmeidig zwischen Räumen, Zeiten und Perspektiven, Poesie und Dokumentation, Stimme, Geräusch und Musik gewechselt werden wie im Hörspiel. Und keine andere Kunstform kann sich die Methoden und Errungenschaften von Prosa, Lyrik, Theater, Performance Art, Musik, Klangkunst und Film so kreativ aneignen wie das Hörspiel. Die Flut von Livestreams im ersten Lockdown, aber auch die Videokonferenzen, die aktuell unseren Alltag bestimmen, haben uns gelehrt, dass das Bewegtbild manchmal gerade da Distanz schafft, wo es sie überbrücken will. Radio generell und das Hörspiel im besonderen schafft hingegen eine Nähe, ja Intimität, bei der die Stimmen der Akteur*innen direkt zu mir in meinem Zimmer sprechen – um nicht zu sagen in meinem Kopf. (In welchem auch die Bilder zum Stück entstehen, ganz wie beim Lesen einer Erzählung.) Das Stöbern in der ARD-Audiothek lohnt sich daher für alle, die eine Abwechslung zu Buch und Netflix suchen und sich beispielsweise nach einem Theaterabend sehnen. Denn das Gefühl des »Live-Erlebnisses«, wie man es aus dem Theater kennt, stellt sich beim Hörspiel viel leichter ein als beim Online-Theaterfilm. Da alle ARD-Anstalten Hörspiele produzieren, ist die öffentlich-rechtliche Hörspiellandschaft in Deutschland ähnlich ausdifferenziert wie die Theaterlandschaft – was Themen, aber auch was ästhetische Ansätze betrifft. Im Vergleich zu ähnlich großen Ländern mit einer zentralistischen Rundfunkorganisation präsentiert sich Deutschland also als Hort einer äußerst mannigfaltigen Hörspielkultur.

Aber bekanntlich »ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (so der vor 80 Jahren von den Nazis in den Tod getriebene Walter Benjamin, der nicht zuletzt selbst ein wegbereitender deutscher Hörspielautor war). Denn in demselben Deutschland, in dem seit 1988 ein Hörspiel des Jahres gekürt wird, gehört spätestens seit 1992 der rassistische Mord an »Fremden« wieder zum gesamtdeutsche Identität stiftenden Ritualbestand. Das führt uns direkt zum Hörspiel des Jahres 2020: türken, feuer von Özlem Özgül Dündar nimmt sein Publikum mitten hinein in den rassistischen Brandanschlag, bei dem am 29. Mai 1993 fünf Menschen türkischer Herkunft starben – angezündet und ermordet von deutschen Rassisten. Die Anschläge von Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock bildeten 1991 bis 1993 den Kamm einer Welle von rassistischer Gewalt in Deutschland, die seither zu einer nicht abebbenden Brandung geworden ist. Der deutsche Bundestag vollstreckte den darin ausgedrückten völkischen Willen, indem er 1993 mit der Zweidrittelmehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD das Grundrecht auf politisches Asyl aus dem Grundgesetz strich. Damit setzte der Souverän nicht nur das repressive Asylregime in Kraft, das wir heute kennen, sondern lieferte den rassistischen Mördern im Land eine nachträgliche Rationalisierung ihrer Verbrechen. Auch wenn immer wieder auch Flüchtlingsunterkünfte Ziele von Anschlägen waren und sind: In Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock wurden Menschen türkischer und vietnamesischer Herkunft Opfer von Brandanschlägen, die seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland lebten. Das waren keine aus dem Ruder gelaufenenen Proteste gegen eine angebliche Überforderung der Gesellschaft durch die aktuelle Asylpolitik, sondern Ausdruck eines Hasses auf »Fremde« generell. Es waren Mordanschläge gegen die eigenen Nachbarn in der Tradition der Reichsprogromnacht von 1938 – zwar nicht staatlich gelenkt, aber durch den »Asylkompromiss« zwischen den damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP sowie der SPD nachträglich politisch legitimiert, nicht geächtet. Die kognitive Dissonanz zwischen der rhetorischen Verurteilung solcher Taten durch offizielle Organe desselben Staatswesens, das sich an anderen Stellen – sei es durch Untätigkeit oder De-facto-Unterstützung wie im Fall von Nationalsozialistischem Untergrund (NSU) und Verfassungsschutz – allzu oft zum willfährigen Akteur eines völkischen Rassismus macht, lässt sich nur mit einer gespenstischen Form kollektiver Verdrängung nicht der faschistischen Vergangenheit, sondern der rassistischen Gegenwart begreifen. Anders lässt es sich kaum verstehen, wenn noch 30 Jahre nach den ersten gesamtdeutschen Mordanschlägen – wie eben in Solingen – die CDU-Vorsitzende von »Alarmzeichen« spricht und von Anfängen, denen man wehren müssen. Nein! Die Totenklage auf der Beerdigung der Brandopfer ist nicht das Alarmzeichen. Ein Alarmzeichen war es bereits, als die späteren Opfer den Feuermelder gedrückt haben – nur dass sich die Feuerwehr dafür entschieden hat, den Alarm zu überhören.

Das Hörspiel »türken, feuer« in der Inszenierung von Claudia Johanna Leist macht diese Kontinuität in ungeschönter Deutlichkeit hörbar, indem sie dokumentarische Nachrichten-O-Töne etwa über die NSU-Mordserie, den Lübcke-Mord und die Anschläge von Hanau und Halle einbindet – und den Tod durch Feuer zum Zentrum seiner Bildwelt macht. Die Hauptrollen gehören den Stimmen von Frauen aus Solingen: Gürsün Inçe, die sich für ihre dreijährige Tochter opfert, als sie mit ihr aus dem Fenster springt, eine weitere Tote und eine Überlebende, aber auch die Mutter des Täters. Das Umkreisen der eigentlich unfassbaren Tat in immer wiederkehrenden, sich schmerzhaft ins Bewusstsein bohrenden Gedankenschleifen vollzieht der Text von Özlem Özgül Dündar auf eine äußerst kunstvolle, dabei aber auch, wie es im Stück heißt, »außerhalb dieser kunstblasen« verständliche Weise. Aufbauend auf ihrer Erfahrung als Lyrikerin [] und Performerin hat Dündar für türken, feuer einen Text geschaffen, der Bezüge zu Rap und Spoken Word ebenso aufweist wie zu den wuchtigen szenischen Monologen einer Elfriede Jelinek oder, in der Generation der 1983 geborenen Autorin, eines Thomas Köck (dessen thematisch ähnlich gelagertes Stück »Atlas« übrigens Hörspiel des Monats November 2020 war).

Die »Atemlosigkeit«, die man dem Rhythmus von Dündars Sprache attestiert hat, wird in »türken, feuer« von den hervorragenden Sprecherinnen Lilay Huser, Marina Galic, Kathleen Morgeneyer und Johanna Gastdorf auf das Intensivste herausgearbeitet, kongenial unterstützt von der beklemmend-atmosphärischen Musik von Schneider TM (Dirk Dresselhaus). Und »Atemlosigkeit« ist hier mehr als eine Metapher, sie wird beim Zuhören zu einer körperlichen Erfahrung. Das Stück zwingt seine Hörer*innen, sich hineinzuversetzen in eine Frau, die weiß, dass sie gleich sterben wird, durch Erstickung oder durch Feuer. Das Stück geht, sehr buchstäblich, dahin, wo es wehtut, es macht erahnbar, wie es sich anfühlt, ermordet zu werden. Und befördert damit eine vermeintlich banale Erkenntnis, die aber in Deutschland seit 1938 nie mehr allgemeiner Konsens geworden ist: Es ist falsch, Menschen und ihre Häuser anzuzünden. Egal, wer diese Menschen sind.

Dass das Stück die Einnahme der Opferperspektive auf eine so existenzielle Art forciert, ist nicht nur eine große künstlerische Leistung, die es bereits jetzt zu einem Klassiker macht. Die unabweisbare Dringlichkeit des Stücks, die sehr wesentlich auch dadurch entsteht, dass man es nicht liest, sondern hört, qualifizieren es auch zum Pflichtstoff in jeder deutschen Schule – egal, ob im Deutsch-, Sozialkunde- oder Geschichtsunterricht. Hauptsache, es wird gehört und diskutiert und man versteckt sich nicht hinter den üblichen klassistischen Ausflüchten wie »Literatur ist zu hoch für Hauptschüler*innen«. Dieses Stück kann jede Person verstehen, die die deutsche Sprache auch nur ein wenig versteht – schon weil sich dank der medialen Struktur des akustischen Mediums Hörspiel ganz viel über Stimmen und Musik vermittelt. Dieser Versuch, bei möglichst vielen nachwachsenden Menschen Empathie mit den Opfern rassistischer Gewalt einzuüben und eine proaktive Ablehnung dieser Gewalt auf jeder Ebene zu erreichen, böte der deutschen Gesellschaft vielleicht am Ende doch noch die Perspektive, sich von einer postfaschistischen zu einer antifaschistischen zu entwickeln.

Denn die bisherigen Strategien hierzu offenbaren ja immer mehr ihre Unzulänglichkeit. Der für alle deutschen Schüler*innen verpflichtende Besuch in einer KZ-Gedenkstätte verfehlt seinen präventiven Zweck, wenn die Abstraktion der historischen Distanz nicht überbrückt wird. Ein Stück wie türken, feuer lässt keinen Zweifel daran, dass es hier nicht um »rein historische« Juden und Deutsche in einer fernen Vergangenheit geht, »die mit uns heute nichts mehr zu tun haben«, sondern um Menschen, mit denen man hier und heute zusammenlebt. Es ist ein Stück über die Selbstverständigung einer diversen deutschen Gesellschaft, die nur gelingen kann, wenn sie als Dialog geführt wird: »ich möchte mit dir sprechen ich möchte mit dir sprechen auch wenn ich keine stimme in diesem stück oder irgendeinem stück bekomme«.

Dass Özlem Özgül Dündar, die selbst in Solingen aufgewachsen ist, als Künstlerin hier auch mit der Autorität jener Community sprechen kann, die von der Gewalttat traumatisiert wurde, ist von großer Bedeutung. Es geht darum, dass die sogenannte »Mehrheitsgesellschaft« ihren Monolog unterbricht und solchen Stimmen zuhört. Denn solange das weiße Deutschland seine Untaten gegen »Andere« immer nur im Monolog mit sich selbst »aufarbeitet«, wird es ein narzisstisches »Gedächtnistheater« bleiben (wie es Max Czollek in Anlehnung an Y. Michal Bodemann nennt), in dem Zerknirschungsrhetorik nach außen und Schulterklopfen nach innen zwei Seiten derselben Medaille sind. (Einer Medaille, die auf einer Seite einen Bundesadler und auf der anderen ein Hakenkreuz trägt.)

In der deutschen Hörspielgeschichte gibt es eine ziemlich grausige Ironie, in der sich dieser Aspekt der postfaschistischen Gesellschaft, in der wir bis heute leben, wie in einem Brennglas spiegelt: Der inzwischen hochgradig kanonisierte Klassiker des deutschen Nachkriegshörspiels und zugleich das wohl erste deutschsprachige Hörspiel, in dem sich 1950 das Grauen der faschistischen Verbrechen zumindest in angedeuteter Form abzeichnete, Träume von Günter Eich, wurde ausgerechnet von einem Mann geschrieben, der nicht nur seinen Einstieg in eine lange Radiokarriere dem NS-Rundfunk verdankte, sondern bereits am 1. Mai 1933 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt hatte. Es wird höchste Zeit, dass auch in diese Abteilung der Literaturgeschichte Bewegung in den Kanon kommt, weil die Geschichte des Hörspiels noch längst nicht auserzählt ist. Weil es heute technisch ebenso wie rechtlich ohne großen Aufwand möglich ist, Hörspiele auch im Schulunterricht zu hören, anstatt sie todlangweilig aus irgendwelchen Reclam-Heften ablesen zu müssen, bietet das Hörspiel nämlich für die Vermittlung von lebendiger, zeitgemäßer Sprachkunst gerade an jüngere Menschen eine riesige Chance. Ganz einfach, weil auch in Zeiten, wo das Lesen langer Texte immer weniger gängig wird, der Zugang über das Hören nach wie vor offen steht. Und genau in diesen zeitgemäßen Kanon des deutschsprachigen Hörspiels gehört Özlem Özgül Dündars türken, feuer – als moderner Klassiker des Genres. Von dieser Autorin werden wir noch sehr viel hören – hoffentlich auch noch viele Hörspiele.