In den Müllbergen der Moderne
Sammeln als sinnstiftende Betätigung
Die moderne Gesellschaft präsentiert sich als Ensemble vereinzelter Einzelwesen. Den Anspruch auf einen individuellen Lebensstil realisiert der Mensch dabei vorrangig in seiner Freizeit: hier wird der Buchhalter zum Bodybuilder, die Telegrammbotin zur Mundartdichterin und mein Onkel sammelwütig. Die Pluralität der Lebensstile meint vielerorts nichts anderes als die Differenz der Hobbywelten, mit denen der Mensch den anomischen Zuständen zu trotzen versucht.
Harry Nutt hat in seiner kleinen Reise durch die Freizeitlandschaft darauf hingewiesen (in: Merkur 6/1997), daß der Körper in den Hobbywelten eine zentrale Rolle spielt. Die Fülle der verschiedenen Sportdisziplinen, die Vielfalt ihrer Fachzeitschriften und die Popularität einzelner Sportler belegen diese These. Fit for fun und Spaß am Extremen, das sind die Maximen, nach denen ein Großteil der Bevölkerung seine Freizeit gestaltet. Turnvater Jahn hätte dies freilich entzückt, denn ist der Volkskörper gesund, freut sich die Wirtschaft. Doch ferner gibt es noch eine Freizeiterbauung, die im direkten Vergleich geradezu ätherisch wirkt: die Sammelleidenschaft. Volker Ilgen und Dirk Schindelbeck näherten sich dieser Passion in ihrem Buch »Jagd auf den Sarotti-Mohr« kenntnisreich und auf vielen Wegen.
Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird gesammelt! Von der klassischen Briefmarke über exklusives Geschirr bis hin zur ordinären Coca Cola-Dose. Aber nicht alles ist eigentlich für alle, dies zeigen Ilgen und Schindelbeck konkret bei der Betrachung verschiedenster Sammeldomänen. Das Sozialprofil eines Sammlers von Emailwerbeschildern unterscheidet sich so deutlich von dem eines Sammlers von Zuckerstücken oder Überraschungseierfiguren, und auch hier bestätigt sich Pierre Bourdieus Annahme, daß Geschmack stets Ausdruck der jeweiligen Schicht- bzw. Klassenlage ist. Gleichfalls spielen noch andere Kategorien bei der Wahl des jeweiligen Sammelobjektes eine Rolle, etwa die regionale Herkunft oder das Geschlecht: »Porzellan oder Stoff sind aus leicht nachvollziehbaren Gründen Frauen unendlich viel näher als Männern, die von allen Objekten aus Metall stark angezogen werden«.
Die Autoren beschreiben zudem, wie gewisse Sammelgüter von der Wirtschaft regelrecht entworfen und vermarktet werden. Die Compagnie Liebig beispielsweise, die den von Justus von Liebig entwickelten Fleischextrakt vertrieb, suchte solange nach einer Möglichkeit, die Attraktivität ihres Produktes zu steigern, bis man 1875 auf die Idee verfiel, die Einsendung einer gewissen Anzahl von abgelösten Dosenbanderolen mit aufwendig gestalteten, 11 x 7 cm kleinen und durchnumerierten Chromolithografien zu honorieren. Diese Sammelbilder, die Vorbilder der heutigen trading cards, mit den kunterbuntesten Motiven aus Kultur, Sport und Politik entwickelten sich innerhalb kürzester Zeit zu einem wahren Tauschschlager. Viele Leute erwarben Liebigs Fleischextrakt nur noch wegen der Werbezugaben; rasch entstand eine Sammlerszene mit speziellen Katalogen und Fachzeitschriften - in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sogar das »Erste Liebig-Bilder-Special-Geschäft«.
Das Prinzip, Industriegüter durch ihre Limitierung und Numerierung begehrenswerter zu machen, funktioniert bis heute, ganz gleich ob bei Hard Rock Café-Pins oder Kaffeerahmdeckeln - wenngleich dies nicht unbedingt bedeutet, daß die Objekte dadurch wirklich selten sind. Die Explosion und der kurze Zeit später einsetzende Verfall der Telefonkartenpreise vor einigen Jahren machen deutlich, was passiert, wenn sich ein Produkt zu sehr an den Interessen eines Sammlermarktes orientiert. Die 'raren' Karten, die man früher per Abonnement für ein Vielfaches des eigentlichen Preises beziehen konnte, werden so heute weit unter dem Nominalwert gehandelt. Und überhaupt entpuppen sich viele erhoffte 'Wertanlagen' später bloß als Entsorgungsproblem für die Erben.
Obwohl die Autoren auch diese Kehrseiten kennen und benennen, geht es ihnen nicht darum, die Sammelleidenschaft bloßzustellen; vielmehr präsentieren sie sich selber als begeisterte Sammler von Wiking-Modellautos und Sozialistica und versuchen, die besondere Faszination des Sammelns in all seinen Facetten anhand von Interviews, Aufsätzen und persönlichen Erfahrungsberichten weiterzugeben. Entstanden ist so ein vielschichtiges Buch, an dessen Ende fast jeder Leser erkennen wird, daß auch in ihm ein 'Sammler und Jäger' steckt - ganz gleich ob er nun Gold, Macht oder Blechspielzeug hortet.