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Mai 2001
Marc Degens
für satt.org

Blumfeld:
Testament der Angst

Eastwest
Erscheinungsdatum:
21. Mai 2001


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Bonus:
Der Blumfeld-Chat
(Protokoll v. 12.5.01)

Blumfeld: Testament der Angst


Kaum ein anderer Tonträger wird derzeit so heftig diskutiert und kein Album der letzten Jahren löste in deutschen Popkreisen derart viele Anfeindungen aus wie die neue Blumfeld-Veröffentlichung „Testament der Angst“. Zugegeben: Als ich zum ersten Mal das Lied „Die Diktatur der Angepassten“ auf dem jüngsten Spex-Sampler hörte, drehte sich auch mir der Magen um. Denn Zeilen wie „Ihr habt immer nur weggesehen/es wird immer so weitergehen/gebt endlich auf – es ist vorbei!/Ihr habt alles falsch gemacht/habt Ihr nie drüber nachgedacht?“ zeugten für mich allein von einem Hochmut und einer Arroganz, die mir zutiefst zuwider ist und die ich so bislang von Blumfeld nicht kannte! Dazu aber später mehr.

Blumfeld ist eine Band, deren Anziehungskraft von der ersten Stunde an vorrangig auf Jochen Distelmeyers Texten beruht. In jedem Stück tritt die Musik hinter die Sprache zurück, einzelne Titel (etwa das Titelstück auf Blumfelds zweiter LP „L'etat et moi“ oder „Eines Tages“ auf „Old Nobody“) sind gar reine Gedichtlesungen. Als Blumfeld 1999 nach fünfjähriger Pause ihr Album „Old Nobody“ veröffentlichten, hatte die Gruppe eine hörbare Veränderung durchgemacht. Blumfeld wandelte sich von einer Undergroundrockband zu einer chartfähigen Popgruppe, und das sorgte landauf, landab für erhebliche Irritationen. Für viele alte Fans aber noch irritierender waren die Texte - Jochen Distelmeyer besang auf einmal die Liebe, das Familienglück und die Freuden des Alltags. Eine Erklärung wurde prompt nachgeschoben: Distelmeyer ist verliebt!

Aber auch wenn die Lieder mit der Zeit süßlicher und softer wurden und die beiden letzten Platten sogar mit einem kalkulierten Singlehit („Tausend Tränen tief“ und „Graue Wolken“) aufwarteten, darf man diese Veränderung meines Erachtens nicht überbewerten und schon gar nicht dramatisieren. Denn Blumfeld waren auch früher keine Ausnahmepunker, keine Monsters of Rock, ja, die Musik diente stets nur den Texten und verzierte dise. Und mögen sich nun einem beim Saxophonsolo auf „Graue Wolken“ auch die Nackenhaare aufstellen, - so komisch es klingen mag, - die musikalische Seite stand bei Blumfeld eigentlich noch nie im Vordergrund. Das soll kein Totschlagargument sein, ich sage nicht, daß man Blumfeld musikalisch nicht kritisieren darf, aber …

Vornehmlich von zwei Seiten wird derzeit auf Blumfeld eingedroschen: Zum einen von denjenigen, die die Gruppe schon immer ablehnten, musikalisch wie auch textlich. Diese Hörer sahen in Blumfeld allein den Hauptstellvertreter der hochnäsigen Hamburger Schule: Musik ohne Eier mit intellektualistischen, naseweisen Texten. Die andere Fraktion besteht aus den alten, nun enttäuschten, da um ihre angeblichen Distinktionsgewinne betrogenen Hörerschaften – und es könnte durchaus sein, daß sich die Abneigung der einen Gruppe gerade gegen diese alten Fans richtet! Wie dem auch sei, beide Fraktionen werfen Blumfeld eigentlich das Gleiche vor: Belanglosigkeit!

In mehreren Besprechungen wurde der textliche Vergleich mit der „Münchener Freiheit“ gezogen. Das ist natürlich blanker Unsinn! Denn schon immer waren Distelmeyers Texte sehr direkt, persönlich und privat, - man muß sich nur einmal die „Ich-Maschine“ anhören! - sie waren einfach und schlicht, allein zeugten sie dennoch von einer hohen Kunstfertigkeit. Aber Distelmeyer war eben kein singender Durs Grünbein oder Thomas Kling, auch wenn er von vielen Leuten dafür gehalten wurde, sondern einfach nur ein sehr guter und vor allen Dingen aufrichtiger Songschreiber – und das ist er bis heute geblieben! Natürlich liegt auch Distelmeyer bisweilen ziemlich daneben und vergreift sich im Ton, aber …

Aber dafür entstehen andererseits auch solch wunderschöne Liedtexte wie „Anders als glücklich“ auf dem neuen Album! Dieses Lied allein lohnt die Anschaffung der Platte. Es ist ähnlich intensiv wie der Neunminutenhammersong „So lebe ich“, das in meinen Augen mit Abstand beste Stück auf „Old Nobody“. Sicherlich: Die „Ich-Maschine“ war die homogenste Platte von Blumfeld, mit wenigen Tiefpunkten, aber auch keinen wirklichen Höhepunkten, eben ein sehr kompaktes Album, doch schon „L'etat et moi“ zerfiel in verschiedene Teile. Das Album bietet zweifelsfrei die größte Dichte an guten Liedern („Verstärker“, „Jet Set“, „Superstarfighter“) auf einer Blumfeld-Platte, aber keines von ihnen ist so dicht und intensiv und großartig wie eben „So lebe ich“ oder „Anders als glücklich - ja, ich glaube sogar, daß Herr Distelmeyer allein schon für diese beiden Hymnen in den Himmel kommt!

Auf „Old Nobody“ gibt es ein großartiges Lied, zwei nette Stücke – der Rest interessiert mich nicht. Manche mögen diese Ausbeute für mager halten, ich bin damit jedoch vollkommen zufrieden. Auf „Testament der Angst“ ist die Ausbeute noch magerer, drei Lieder (vor allen Dingen „Abendlied“ – ein Stück wie für und von Ringo Starr) finde ich sogar unhörbar, und dennoch halte ich „Testament der Angst“ insgesamt für eine gelungene und darüberhinaus wichtige Platte: GottseiDank gibt es ja programmierbare CD-Player. Und zudem ist das Album in sich geschlossener als der Vorgänger, kommen wir also zurück zum Anfang. Wie gesagt war ich ziemlich aufgebracht, als ich „Die Diktatur der Angepaßten“ zum ersten Mal hörte. Dieser Eindruck relativiert sich allerdings, wenn man daneben „Anders als glücklich“ und das Titelstück hört. Denn in den Liedern kommen keine festen politischen Standpunkte zum Ausdruck, vielmehr entfalten sich darin die Facetten eines kritischen Denkens, das für mich ausgesprochen authentisch ist (trotz aller Verbote)! Distelmeyer singt keine Slogans, sondern hinterfragt sich und die Wirklichkeit! Das machen viele, aber anscheinend macht es Distelmeyer anders und – wie die Reaktionen zeigen – effektvoller.

Fazit: „Testament der Angst“ ist in meinen Augen ein mutiges, aufrichtiges und durchaus gelungenes Album, und bricht keineswegs mit der alten Blumfeld-Tradition. Der Vorwurf, daß die Gruppe kein gutes Rockalbum gemacht haben, zielt meines Erachtens ins Leere, ebenso wie die Unterstellung, daß „Testament der Angst“ bloß auf Verkaufszahlen und Massenkompatibilität aus ist. Die Texte sind zwar sprachlich sehr einfach und schlicht, aber inhaltlich sperrig, und das ist derzeit nicht gerade sehr verkaufsträchtig – allein schon die Titelwahl macht dies deutlich (das Album heißt schließlich nicht „Weil es Liebe ist“ oder „Wellen der Liebe“)! Ob Popmusik ein geeignetes Medium ist, Sozialkritik und politische Inhalte zu formulieren und zu transportieren, ist eine ganz, ganz alte Frage, aber die Diskussionen und die Aufregung um die neue Platte machen deutlich, daß es Blumfeld immerhin gelungen ist, eine Diskussion in Gang zu setzen - und welche andere Gruppe hat dies in der letzten Zeit überhaupt mit einem Tonträger geschafft! Ich gebe zu, daß „Testament der Angst“ nicht zu meinen Lieblingsplatten zählt, aber über keine von ihnen könnte ich auch nur annähernd soviel schreiben wie eben geschehen. Man kann Blumfeld vieles vorwerfen, keineswegs aber Belanglosigkeit – fast jeder Einspruch beweist schließlich das Gegenteil!