Wohin gehst Du, Bruno?
"Coeur", das erste offizielle Soloalbum von Bruno Kramm, dem Kopf, Erfinder
und Mastermind der seit 10 Jahren erfolgreichen Electro-Band Das Ich, liegt
auf meinem Schreibtisch, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Eins vorweg: Ich mag Bruno; er ist ein tiefsinniger, wortgewandter Zampano, ein Filou, ein Wadenbeißer, ein außergewöhnlicher Musiker, ein lieber Kerl
und ein cleverer Geschäftsmann. Man weiß nie, ob er einen verarschen will - und das finde ich extrem spannend. Vor genau 6 Jahren haben wir zusammen das Soloalbum eines ziemlich untalentierten Gruftstars produziert; und viel zu süß sind die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, als daß ich vorurteilsfrei sein Album beurteilen könnte. Zunächst freue ich mich, denn er hat ein Album gemacht, welches keineswegs - wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre -
nach
Das Ich klingt; es ist völlig anders; und damit sage ich: Gute Entscheidung, mutige Entscheidung, sehr ordentlich! Auf der anderen Seite ist mir nicht ganz klar, wie man das denn nun bezeichnen soll, was aus den Boxen kommt. Ist es Electro, Pop, 80er, Art-Rock, Spliff, Techno? Ist es einfach
KRAMM, den wir da hören, wie er sich - vielleicht ein bißchen zugekifft - selbst versteht?
Musikalisch dreht er sich zwischen pumpenden Electro-Bässen, leider nicht sehr innovativen Noise-Sounds und einer Menge Bimmeln, Streichern und Glöckchen. So ziemlich jede Vorliebe, die sich in Brunos Kopf befindet, blitzt in den Songs durch. Und so weiß er sicherlich, wie er einen Song auf die deutschen Düster-Tanzflächen bekommt. Das merkt man schon bei "Blasses Kind", dem wohl eingängigsten Titel auf dem Album; doch so ganz werde ich den Eindruck nicht los, daß Bruno Kramm sich hier etwas sehr an die derzeitige langweilige Clubmusik anbiedert. Die stärksten Momente auf seinem Album sind meiner Ansicht nach schlicht die Refrains; fast immer äußerst euphorisierend kommen sie daher, wenn sie mich auch textlich nicht immer vom Hocker hauen. Und zweitens: Bruno traut sich zu singen. Er versteckt sein bislang nicht sehr bekanntes Organ keineswegs hinter Vocodern oder Verzerrern; er stellt seine Stimme ganz nach vorne und zeigt dabei doch ein ganz gewaltiges Repertoire an Möglichkeiten.
Anders als halbtote Musiker wie
Joachim Witt geht Bruno den Weg, es mit frischer Ware zu versuchen; er zieht sich nicht auf sein musikalisches Altenteil zurück, sondern kommt durchweg mit verschiedenen und wechselnden Ideen daher. Womit wir - bei all meinem Zweifeln - bei einem großen Plus an diesem Album sind: Es ist schlichtweg ungewöhnlich. Und das, was ungewöhnlich ist, ist auch spannend, jedenfalls empfinde ich es so. Bislang ist es für mich eine Melange aus Electro-Pop, deutschsprachigem Soul, EBM und Krautrock.
Dieses Album wird mich noch einige Zeit beschäftigen; ein endgültiges Urteil steht mir noch lange nicht zu.