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August 2001
Thomas Vorwerk
für satt.org

Radiohead:
Amnesiac

Parlophone (EMI Vertrieb)

Radiohead: Amnesiac

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Radiohead: Amnesiac



Echte satt.org-Leser lieben es, wenn ich bei einer Filmbesprechung erstmal den Trailer, den Soundtrack oder das Plakat seziere, bei einer Buchrezension im Detail die Covergestaltung beschreibe oder wie hier erstmal eine Seite über abwegige Designfragen doziere, bevor ich zur Musik komme.

Seit 1994, also seit dem Minialbum "My Iron Lung", ist Stanley Donwood für das Design bei Radiohead-Veröffentlichungen verantwortlich, eine ähnlich fruchtbare Verbindung wie die zwischen Depeche Mode und Anton Corbijn oder P J Harvey und Maria Mochnacz. Auf "Kid A" gesellte sich zu dem da schon vertraulich nur noch Stanley genannten Künstler ein gewisser Tchock hinzu, und auch das Eingehen einer freundschaftlichen Beziehung, die sich in Kosenamen offenbart, fand ihre Fortführung.

Wer wie ich das Glück hat, die neue Radiohead-CD in einer limitierten Version (noch dazu zum gleichen, sehr günstigen Preis) zu erstehen, bekommt ein seltsames Buch, für das Stanley und Tchocky verantwortlich zeichnen. Bei Büchern ist ja meistens am interessantesten, was so drin steht, doch in diesem Fall unterscheidet sich der Inhalt des Büchleins nicht von den mysteriösen Booklets, die man sonst in den CD-Hüllen findet: elektronisch verfremdete, unspektakuläre Schnappschüsse, einige Textfragmente, die womöglich auf Lyrics hindeuten könnten, und diverse Zeichnungen zwischen autistischer Kritzelei und Alptraumvisionen wie aus Anschaumaterial für Psychologen. Warum schwafele ich also so lange und ausführlich über das schmale Bändchen?

Einige von euch werden vielleicht beim Durchstöbern der Plattenregale das Cover der neuen Radiohead-Scheibe gesehen haben. Auch auf Plakaten prangt ein ähnliches Motiv, das nur der aufmerksame Betrachter als -siehe da!- ein Buch identifizieren kann, und zwar ein Buch, das irgendwie so ähnlich aus sieht wie mein Buch, allerdings nicht im jetzigen tadellosen Zustand, sondern in einer jämmerlichen Verfassung. Und diese jämmerliche Verfassung kann man mithilfe des Buches ziemlich genau nachvollziehen, denn die CD zum Buch findet man in einer eingeklebten Papptasche, die das Buch als Eigentum der "Nosuch Library" identifiziert, Karteinummer "F heit 451" (bekannterweise ist 451 Grad Fahrenheit die Temperatur, bei der Papier Feuer fängt, wie man aus der gleichnamigen Bücherverbrennungsliteratur von Ray Bradbury, verfilmt von Francois Truffaut, entnehmen kann). Man kann anhand diverser Stempel feststellen, daß das Buch im Zeitraum vom 26. Juni 1996 bis 5. November 2007 vierundzwanzigmal entliehen wurde. Ferner sieht man auf einem Beipackzettel, daß das Buch mal "withdrawn from circulation" wurde, weil ja der "spine damaged" war. Doch zwei Jahre später, am 6. November 2009, wurde es "reissued", und es gibt sogar noch einen Stempel vom 6. Februar 2012. Nach 16 Jahren in einer Bibliothek könnte das Buch sehr wohl so zerfleddert aussehen, wie wir es auf dem Cover (und auf einem Foto im Buch) sehen können. Und dieses konzeptionelle Zeitreise-Spielchen ist es, was ich so interessant finde, daß ich euch davon langatmig erzähle …

Nun also endlich zur Musik. Der Opener "Packt like Sardines in a Crushd Tin Box" kann selbst mich Bewegungsmuffel dazu animieren, im Zimmer zu tanzen, und schon früh bewahrheitet sich die Vorankündigung, daß die neue Scheibe wieder etwas zugänglicher sein soll als "Kid A". Hier gibt es nicht nur lose verbundene, experimentelle Fragmente, die mehr zufällig aufeinander folgen als eine Struktur erkennen lassen, hier gibt es wieder richtige Songs. Der "Pyramid Song" etwa ist relativ konventionell vor allem von Percussions und einem zunächst klavierlastigen Orchester getragen. Und natürlich von Thom Yorkes Stimme, die hier wieder herzzerreißend schmachtet, daß es eine wahre Freude ist. Aber Songtitel wie "Pull/Pulk Revolving Doors" lassen schon irgendwie ahnen, daß trotzdem noch gerne mit Tönen collagiert wird, wobei allerdings der Drumbeat dafür sorgt, daß das irgendwie surrealistische Klangkonstrukt trotz allem einen Anfang und ein Ende hat. Bei "You and whose Army?" vertraut man wieder auf die Kraft des Sängers, im Hintergrund einige minimalistische Keyboards, die sich ganz unmerklich nach vorne drängen, bis das ganze etwas zu bombastisch-balladenhaft aufdreht. Spätestens beim fünften Track bilde ich mir ein, daß es kein Zufall sein kann, daß die ungeraden Tracks immer drumlastig sind, während die geraden mehr von Yorkes Stimme getragen werden, aber "I might be wrong", denn spätestens hier kommen diese beiden Elemente zusammen, wenn auch etwas zurückhaltend, und von einer schrammeligen E-Gitarre versetzt. Um die Spuren zu verwischen, folgt danach ein kleines Intermezzo, aber "Knives out" passt wieder genau ins Schema, ein locker-flockig, fast schmusig-plätschernder Thom Yorke, der mit etwas Elektronik unterstützt vor sich hin trällert.

"Morning Bell" gab es schon auf "Kid A", deshalb heißt der nächste Song "Morning Bell/Amnesiac", und er macht im Vergleich zum Vorgänger besonders klar, worin der Unterschied zwischen den beiden Tonträgern besteht. Wo hier die Überreste einer verzerrten Gitarre vom Melodieteppich fast völlig verdeckt wird, konnte man letztes Jahr diverse sozusagen "herumliegende" Sound-Details erhaschen, die umgangssprachliche Bezeichnung dafür ist "wie bei Hempels unterm Sofa". Nun mögen die klanglichen Experimente immer noch unter der Couch vor sich hinvegetieren, aber die Band lenkt uns davon ab, läßt die sperrigen Kuriosa allenfalls unter einem plüschigen Perser erahnen, wobei ich mir nicht sicher bin, welche Methode besser ist. Wenn ich allerdings einen Blick auf meine mal wieder ziemlich chaotische Studentenbude werfe, gibt mir das eine recht gute Idee. Vielleicht wollten radiohead nach dem extravaganten letzten Album einfach nur zeigen, daß sie noch aufräumen können, wenn sie wollen.

"Dollars & Cents" ist Song Nummer 8, also gerade, und gibt ein wenig mit dem Orchester an, ohne mich wirklich überzeugen zu können, "Hunting Bears" hingegen ist so spartanisch-spröde, daß es einen irgendwie gefangen nimmt, auch wenn man es sicher nicht fürs Cassettendeck im Cabrio aufnehmen würde. Zum Abschluß wird man wieder etwas quirky, um den Rezensenten einzulullen, "Life in the Glasshouse" kommt dissonant-jazzig daher, so daß man geneigt ist, die Zuckerguß-Passagen zuvor zu vergessen. Aber eigentlich waren die ja auch ganz nett, gerade die extremen Unterschiede machen den Reiz dieses Albums aus.