Herbert: Bodily Functions
"theft, contrary to popular myths,
does not good art
make …"m.h.
Zwei scheinbare Widersprüche: Es gibt heutzutage noch
Alben, die einen Sommer überdauern. Es gibt Künstler, die
es schaffen, Nachdenklichkeit tanzbar zu machen.
Vor einem Jahr erschien "Bodily Functions" von Matthew
Herbert, wieder ist es Sommer, ein Blick zurück ist
ausnahmsweise mal zukunftsweisend. Matthew, der sich auch
gerne "on the move" Herbert nennt, trat seitdem in allen
Teilen der Erde auf, mit einer an Schizophrenie grenzenden
Alter-ego-Mentalität.
Herbert=Radioboy=Dr.Rockit und wenn es sein muss, noch
einige mehr.
Was ist das Besondere an diesem Workaholic, der seit
einiger Zeit zu den gefragtesten Produzenten Europas
gehört? Er selbst beschreibt seine Musik schlicht mit zwei
Worten: "acoustic and bouncy". Ganz gute Idee, "bounce"
heisst soviel wie sprunghaft sein, kann aber auch die
Bedeutung haben, jemanden zu einer Handlung zu provozieren.
Angeblich stammt es vom niederdt. "bunsen", was auf
englisch wiederum "beat" heisst.
Das soll hier aber weniger ein linguistisches Seminar
werden, als die Andeutung, dass hier jemand Forderungen
stellt. Mit 130bpm. Deephouse ist gemeinhin ein Genre, von
dem man keine Kritik erwartet. Es herrscht Hedonismus vor,
es ist schwierig, Inhalte zu transportieren.
Wahrscheinlich gerade ein Anreiz für den 31jährigen
Engländer, Konventionen einzurennen.
Was seine Songs auszeichnet, ist eine eher schüchterne
Geradlinigkeit in der Komposition und eine umso
selbstbewusstere Anarchie in der Produktion. Der Sampler
wird zum wichtigsten Instrument, Percussion-Sets entstehen
aus Haut- und Haargeknister, Zähnefletschen,
Knöchelknacksen. Das Rauschen einer Blutbahn eingefangen
per Kontaktmikrophon. Der Song "Foreign Bodies" ist
gestrickt aus den intimen Geräuschen fremder Menschen.
Und das ist dann tatsächlich wieder House, Körperkult
ganz anderer Art.
Herbert hat mit vier Jahren Klavier gelernt, eine
klassische Ausbildung als Jazzmusiker folgte. "Bodily
Functions" ist eine Melange aus Jazz-Standards,
unaufdringlichen Housebeats und einer Menge nicht
bestimmbarer Noises. Und dann diese Stimme. Seine
Lebensgefährtin Dani Siciliano gibt so wunderbare Vocals,
aufwühlend, melancholisch.
Das gewöhnliche Samplen, soll heissen, das übernehmen
von Sounds anderer, verachtet Matthew Hebert. Es ist für
ihn eine reine Konsumhaltung. In einem Manifest hat er eine
Reihe von Forderungen an sich selbst gestellt, Richtlinien
für die Komposition seiner Musik. Keyboard- oder andere
Fabriksounds müssen in jedem Fall editiert werden, Samples
müssen nach der Fertigstellung des Tracks gelöscht
werden.
Diese Details entprechen seiner konsequenten Haltung
gegenüber einer Beliebigkeit, wie sie kennzeichnend ist
für die postmoderne Gesellschaft. Er will sein gesamtes
Schaffen in einem kritischen Kontext sehen, seinen Platten
fügt er Leselisten bei (Naomi Klein, Paul Virilio …), in
dem Song "Hymnformation" heisst es: "We are selling anthrax
to our enemies."
Politics goes dancefloor, in diesem Fall eine erstaunlich
überzeugende Gratwanderung, die mit Westerwelle nicht viel
gemein hat.
Momentan tourt Herbert mit dem Projekt "The Mechanics of
Destruction" durch die Lande und verteilt das gleichnahmige
Album non-profit. Es ist im Handel nicht erhältlich, kann
aber bei accidental records bestellt werden. Die Songs sind
pures Recyclen des Globalismus, Titel wie "McDonalds"
oder "Rupert Murdoch" verraten die Soundquelle: ein "Bic-Mac-
Meal" oder die "Sun".
Nebenbei entwickelt er mit Pedro Almodovar ein Musical,
macht Musik für den Dogma-Film "Intended", arbeitet an
seinem zehnten Album. Matthew Herbert is burning. Respekt.