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Juni 2002
Jörn Morisse
für satt.org


Tocotronic:
Tocotronic
L'Age D'Or/Zomba

Tocotronic: Tocotronic

Release:
10. Juni 2002

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sattLinks:
Interview (99)
Es ist egal, aber (97)

Diese Band ist Tocotronic
Das Beste von gestern, heute, morgen.



»Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei. Wir sind wie Agenten, jetzt ist es soweit«, singt Dirk von Lowtzow in dem Stück »Neues Vom Trickser« auf der neuen, selftitled Tocotronic-Platte. Doch dass die ausschließliche Ich-Perspektive, die zwangsläufige Rückführung auf das Subjekt ausgedient hat, wurde schon auf dem »K.O.O.K.«- Album von 1999 klar. War damals in den Texten viel von dem dunklen Königreich, einer großen Unsicherheit die Rede, so drückt sich Dirk von Lowtzow 2002 nicht viel deutlicher aus:
»Wir sind nie allein: Die Wolke der Unwissenheit wird für immer bei uns sein. Vielleicht sind wir, was sie träumen. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
Atmosphärisch oder plattitüdenhaft? Eine bildhafte Sprache jedenfalls, die für viele Interpretationen und Seltsamkeiten Raum bietet. In jedem Lied stecken mehrere Andockstationen für eigene Assoziationen; die Verweise, Bedeutungen und Behauptungen sind weit gestreut. Das ist eine ähnliche Haltung wie bei »K.O.O.K.«, wo die Europe-Fanfare auf »Let There Be Rock« nicht diffamierend benutzt, sondern Sample-mäßig in einen neuen Zusammenhang gestellt wurde. »Tocotronic« bewegt sich ebenfalls munter durch die Musikgeschichte (Ein Morrissey-ähnlich ausklingender Gesang auf »Führe Mich Sanft«; ein tolles The-Clean-Solo auf »Das Böse Buch«, »Heroes«-mäßige Gitarre auf »Schatten werfen keine Schatten«). Und so sollten gute Platten ja auch sein, dass sie Fährten legen zu anderen Welten; der Hörer wird zum Spurenleser. Und indem man die Codes anhand seiner eigenen kulturellen Sozialisation versucht zu entschlüsseln, geben dann Tocotronic, die sich ja eigentlich immer weiter davon entfernen wollen, die Biografien ihrer Hörer mitzuschreiben, doch wieder Anlass, die konkrete Lebenswelt miteinzubeziehen, das Ich zu definieren.

Ein paar offensichtliche Verweise bietet die Band an: »Das Licht aus. Den Schalter um. Hier ist das Imperium. In meinem Blick gibt es kein Zurück und kein Ende.« Ein quetschig-gepresster Gesang zitiert »Empire«, das vielbeachtete Buch von Antonio Negri und Michael Hardt. Die Band dazu im Interview:

»Begriffe wie das Imperium, das dunkle Königreich interessieren uns, weil sie mit der Doppelbödigkeit spielen, das sie einerseits politisch gelesen werden können, andererseits stark aus einer Fantasywelt entlehnt sind. Einer Doppelbedeutung, der sich Negri/Hardt bewusst sind, wenn sie so ein Wort wählen. Wir und die Generation, die Empire jetzt liest, ist ja auch mit Star Wars usw. aufgewachsen. Man kann das schon auch in einen poppigen Zusammenhang stellen.«

Es ist nicht mehr möglich, die textliche Ebene eindimensional zu lesen, zu viele Motive sind darin angelegt. Tocotronic testen noch einmal die Grenzen aus. Falsche Fährten werden gelegt, es gelingt nicht ohne weiteres, das Gute von dem Bösen zu unterscheiden, der Alltag wird vor allem als Material metaphorischer Aneignung wahrgenommen. Melancholie und Alkoholismus, Ticken der Wanduhr, weiße Mäuse, Blitze auf dem Rändern der Gehirnrinde sind nur noch Ereignisse, die vor allem strukturell interessieren.

Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Platte sind aber die kleinen Geräusche, dezente Streicher, einzelnen Lärmpassagen oder Klavierharmonien, die sich in jedem der insgesamt 13 Stücke verborgen halten, die man erst beim genauen Hinhören entdeckt und die das Werk fast genauso zusammenhalten wie der immer variantenreicher werdende Gesang Dirk von Lowtzows. Selbst die Stücke, auf denen das Tempo anzieht (»Hier ist der Beweis«, »Hi Freaks«) sind aufwendiger, komplexer im Aufbau. Nie weiß man, was als nächstes passiert. Da ist nicht mehr viel übrig von den einfachen Laut/Leise-Effekten, den rauen Nummern, die das Frühwerk prägten. Was auch damit zusammenhängen mag, dass die Band sich so viel Zeit wie nie gelassen hat, um das Werk einzuspielen:

»Wir sind mit der Grundstruktur der Stücke ins Electric Avenue-Studio gegangen und haben mit Tobias Levin viel zusammen gespielt, uns ungefähr ein dreiviertel Jahr Zeit genommen, ihm die Stücke bekannt zu machen. Tobias ist viel weiter zu uns vorgedrungen und hat uns viel mehr beeinflusst als vorige Produzenten. Wir haben ihn aber auch viel näher an uns rangelassen. Es gab eigentlich nicht die Befürchtung, dass der Sound, der Tocotronic ausmacht, den wir von uns dreien aus dem Übungsraum kennen, manipuliert wird. Andrerseits war da aber auch immer die Wunschvorstellung, dass genau das passiert.«
Und man konnte in Hamburg aufnehmen.
» K.O.O.K.« in Frankreich war eine sehr hermetische Atmosphäre, die kaum andere Einflüsse zuließ. Es gab damals kaum Rückzugsmöglichkeiten, man konnte nicht einmal spazieren gehen, ohne dass man von Hunden angefallen wird.«
Die Taktik, die Stücke im Produktionsprozess wachsen zu lassen, ist aufgegangen. Auch Tobias Levin, der, so hört man, wieder an einer neuen Cpt.-Kirk-Platte arbeitet, hat sich mit klugen Ratschlägen und Ideen nicht zurückgehalten:
»Wir wollten nicht den typischen Dualismus Produzent drückt Band den Sound auf, sondern wir wollten eine Workshop-Situation entstehen lassen. Ganz viel ausprobieren, ganz viel spielen zu viert, Tobias hat viel dazukomponiert, seine Arbeitsweise ist manisch, hingebungsvoll.«
Aber woran kann man die Weiterentwicklung genau festmachen? Beispielsweise an dem freefloating Anfang von »Hi Freaks«, der virtuos eingefügten Klavierlinie im Hintergrund, die Lowtzows Gesang, wie er das so hinhaucht am Schluss, die Schärfe nimmt und seine Stimme erst als Klangkörper herausschält. Man merkt, da ist Spannung zwischen den einzelnen Teilen. Intensiv und ausgeruht klingt dieses Album, mit dem skeptischen Blick auf 9 Jahre Bandgeschichte. Flächigkeit bestimmt den Sound, beim ersten Hören könnte man die Platte fast für überproduziert und verklausuliert, ja humorlos halten (für Tocotronic-Verhältnisse); auch vom Gestus her eine sichere Nummer, aber dann wird klar, die Eleganz liegt hier im Detail, in der Offenheit, im ständigen Wechsel der Blickwinkel. Tocotronic werfen heutzutage mehr Fragen an den Verhältnissen, in denen wir leben, auf, als dass sie Antworten formulieren. So kann's weitergehen, immer weitergehen. Zur bevorstehenden Tour steht dann das »vierte Bandmitglied« Rick McPhail auch wieder zur Verfügung.