Gary Numan:
Scarred
Live at Brixton Acada
Manchmal ist es mir völlig unverständlich, warum Deutschland in Sachen Popmusik jeden Mist aus den Staaten und England übernimmt, während die guten Platten liegen bleiben. Da landen dann durchschnittliche R'n'B-Produkte mit nervig-nacktärschigen Ghetto-Plattitüden und völlig überschätzte, hotelzimmerzerschlagende Ekel-Rocker mit Kochtopf-Frisuren in den bundesrepublikanischen Charts und haben mehr Erfolg als in ihrem Heimatland. Wenn es dann aber mal ein Qualitätsprodukt aus Übersee zu entdecken gibt, das Hand und Fuß hat, tun wir uns schwer in Rock-Pop-Germany. Anders ist es nicht zu erklären, dass Gary Numan in England ein Superstar ist, während seine Platten in Deutschland kaum die 1000er-Marke überschreiten dürften. Um so löblicher ist es, dass das Label "Eagle Rock", immerhin ein "Edel"-Ableger, seit einigen Jahren versucht, gegen den mangelnden Bekanntheitsgrad Numans in Deutschland vorzugehen.
Numans Stern ging in den Siebzigern auf, als er noch unter dem alten Bandnamen Tubeway Army mit dem Titel "Are friends electric?" einen Nummer 1 Hit in England verbuchen konnte. Es folgten Jahre des Experimentierens – nicht immer zur Freude seiner eingefleischten Fans, denn Herr Numan ritt nicht auf einer einmal ausgemachten Erfolgswelle, sondern strapazierte verschiedene Genres und Richtungen. Es folgten Zusammenarbeit und Touren mit namhaften Künstlern: Fear Factory passten dabei genauso in das Numansche Denkschema wie Queen-Schlagzeuger Roger Taylor oder Japan-Mitglied Mick Karn.
Bei allen Produktionen blieb gleich, dass Numan sich als auf musikalische Konventionen pfeifender Künstler zeigte, der Noise-, Dance- und Wave-Elemente mit doomigem Gitarrenrock ungeniert kombinierte. Eine Eigenschaft, durch die er in der gleichen Spielklasse landet wie Brian Eno oder David Bowie.
Das im Mai erscheinende Doppelalbum "Scarred" ist nun quasi das Resümee der letzten Arbeiten des Künstlers. Es handelt sich um ein Live-Album, das in 22 Stücken einen Rückblick auf die ersten Hits Numans gibt, gleichzeitig aber erneut seine beiden letzten Studioalben "Exile" und "Pure" (beide großartig!) in den Vordergrund rückt. Aufgenommen vor vollem Haus in der legendären "Brixton Academy", erlebt der Hörer auf diesem Album einen impulsiven, gesangssicheren Gary Numan, eine fantastisch zusammenspielende Band und ein euphorisches Publikum. Auch der Gesichtspunkt Sound, der bei manchen Live-Aufnahmen ja erheblich nerven kann, enttäuscht keineswegs: hier ist man mittendrin statt nur dabei.