Freitagabend in Babelsberg. Nebelschwaden hängen tief in den Straßen, dann
fängt es an zu regnen. Es ist kalt und feucht wie in Buenos Aires im Winter.
Der argentinische Präsident Néstor Kirchner hat vor kurzem einen geplanten
Berlinbesuch abgesagt. Sein Land steht bei deutschen Schuldnern so hoch in
der Kreide, dass er befürchten musste, die Tango 01, das
Präsidentenflugzeug, könnte gleich nach der Landung gepfändet werden. Die
Band Attaque 77 hat keine Angst um ihr Equipment und den Tourbus, sie sind
schon zum zweiten Mal hier. So lautetet ihre Botschaft auch nicht
Schuldenstreichung, sondern ganz klassisch, 77er eben: »¡Punk es
revolución!«.
Die vier Jungs aus Lanús, einer Millionenstadt im Speckgürtel von Buenos
Aires, sind zurzeit auf Europatournee. Gestern Kiel, heute Potsdam, morgen
Düsseldorf. Wie Rockbands vom Format von Bersuit Vergabat und Los Fabulosos
Cadillacs füllen sie in ihrer Heimat Stadien. Doch während diese höchstens
in Madrid auftreten, tingeln Attaque 77 durch kleine Clubs in der deutschen,
italienischen und spanischen Provinz, spielen vor dreißig, fünfzig, mal
zweihundert Leuten, auf Festivals. Und haben Erfolg: »Das Publikum hier mag
uns«, erzählt der Sänger der Band, Ciro Pertusi, nach dem Konzert im
Interview. Andere Hardcore Acts wie Fun Peöple hätten »Aufbauarbeit«
geleistet, das europäische Publikum auf die ungewohnten, weil punkigen Klänge
aus Südamerika eingestimmt. Während Fun Peöple aber in besetzten Häusern
nächtigen, bestehen die Musiker von Attaque 77 doch auf ein bisschen
Komfort. »Squats in allen Ehren, aber das wäre nicht unser Ding«, meint
Ciro. »Ein Hotelzimmer muss sein, schließlich arbeiten wir hier.«
In Buenos Aires fährt Ciro nur noch Fahrrad. Im Bus, im Zug, überall
stürzten sich kreischende Teenies auf ihn. In Europa spielen, das bedeutet
von Null anfangen. »Jeden Applaus, den du hier bekommst, den hast du dir
verdient.« Wie zu Anfang ihrer Karriere, 1988, als ihre erste Platte
erschien. Der Ruhm ließ nicht lange auf sich warten: Schon die zweite
Scheibe gewann drei Mal Platin. Ihre Musik ist eingängig und
kraftvoll. »Punk Melódico« heißt das Genre, mit denen ihre Fans die Musik
beschreiben. Attaque 77 bedienen sich bei den Ramones und The Clash, mischen
den »Geist von 77« mit Pop, Reggae und Ska. Am Freitag gab es als Zugabe
sogar »No me arrepiento de este amor«, einen Klassiker der viel zu früh
gestorbenen Cumbia-Königin Gilda.
Puristen, die im Sound von Attaque Verrat am Punk heraushören, hält Ciro
entgegen: »Wir haben unser eigenes Verständnis von Punkrock.« Punk wie in
Europa ist in Südamerika nicht vorstellbar. Es gibt einfach nicht so viele
Punker. Dennoch, auf die Frage, was für ihn dann ein argentinischer Punker
ist, erklärt Ciro: »Der muss nicht rumlaufen wie ein Punker, die Leute, die
von den Banken um ihr Geld betrogen wurden, die ihre Arbeit verloren haben,
deren Rente gekürzt wird, und die protestieren, das sind alles Punker.«
Auch das Publikum im Lindenpark ist gemischt: Exil-Argentinier, Schülerinnen
mit Piercing und Nietengürteln, Oi-Skins. Gustavo, 28, würde in Buenos Aires
nie auf ein Konzert der Band gehen. »Ich komme aus Florida bei Buenos Aires,
einem noblen Villenvorort wie Babelsberg« gesteht er und prostet mit einer
Florida Boys Dose, einer kohlensäurefreien Brause aus dem
S-Bahn-Getränkeautomat. Später als Attaque einige ihrer größten Hits
spielen, singt Gustavo sogar ein wenig sehnsuchtsvoll mit. Dabei wollte er,
als er in den Lindenpark kam, gleich wieder gehen: Die Vorband Volxsturm
schmetterte das Lied »Skinheadgirl«, das Publikum johlte »Oi, oi, oi«. Doch
ein Besucher mit Attaque-T-Shirt klärte ihn auf: die Skins kämen alle aus
der Punkszene. »Red Skins?«, fragte Gustavo zur Sicherheit nach. »Sí, señor«
beruhigte ihn der Fan.
Es ist schon nach Mitternacht, als Attaque endlich auf die Bühne kommen. Sie
spielen ein schnelles, energetisches Set. Gerade Mal eineinviertel Stunden.
Zwischen den kurzen Songs, eine Lektion argentinischer Flüche, artige
Dankesworte auf Deutsch, Covers von den Ramones, Bob Marley und eine
Hommenage an die Verschwundenen und den Subcomandante Marcos. Die Stimmung
ist gut. Eine runde Sache. Hoffentlich verirren sich in Zukunft mehr
südamerikanische Bands in den Lindenpark. Es wäre Potsdam zu wünschen.