Mutter hat eine neue Platte veröffentlicht, es ist das siebte Studioalbum der Berliner Krachrocker und trägt den lächerlichen Titel "CD des Monats". Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt an diesem kraftvollen, zeitgemäßen und rundum gelungenen Werk. Das Album dröhnt und rockt, klagt und atmosphärt, es ist wild und ungestüm und keinesfalls gut produziert: Na und? Mitunter hat man das Gefühl, direkt im zugemüllten Mutter-Proberaum zu stehen – der Bass ist zu leise, das Schlagzeug zu laut … Die Texte versteht man bloß im Ansatz, aber in der Regel reichen ja schon ein paar aufgeschnappte Worte und Satzfetzen aus, um ein Lied mitzufühlen, mitzusingen und mitzubrüllen. Wenn Blixa Bargeld der einfallreichste deutschsprachige Ich-Sänger (ich bin sechs Meter groß/ich bin Prometheus/ich bin das letzte Biest am Himmel …) der ernsten populären Musik ist, dann ist Max Müller von Mutter zweifellos der bedeutendste Du-Sänger (du bist häßlich/du bist nicht mein Bruder/du bist was du bist …). Ironie und Feingefühl sind ihm fremd, Müllers Verse sind kränkend und finster und endgültig. Das paßt gut zur derzeitigen deutschen Katerstimmung. Oder besser gesagt: Mal wieder.
v.l.n.r.: Achim Treu (gitarre), Kerl Fieser (bass), Max Müller (gesang), Florian Koerner von Gustorf (schlagzeug), Tom Scheutzlich (tasten) Foto: Mona Bräuer
|
Die erste Hälfte der neuen Mutter-Platte ist ausdauernd, schwermütig und walzend. Sie beginnt mit dem bombastischen 9-Minuten Opener "Paris London New York", einem bekifften Krautrockinstrumental mit kreischenden Gitarren und Open-Air-Euphorie. Die Rückseite der giftgrünen Platte ziert ein gezeichnetes Porträt der Band auf dem der Sänger wie der ältere Bruder von Harald Juhnke aussieht – und wenn man das gespenstisch-gehässige Lachen hört, mit dem das zweite Stück "Windows 1-0" ausklingt, möchte man dies fast glauben. Den Schlußpunkt der A-Seite setzt eine wütende, lärmende Version des Mutter-Klassikers "Wer ist das Mädchen". Die zweite Seite des Albums ist flotter, vitaler, zupackender. Die Becken scheppern und die Band schießt aus allen Rohren … großartig! In dem Stück "Neue Gemeinschaft" spielt sich die Band durch dreißig Jahre Rockstandards und übersteigert sie bis zur Karikatur. Das letzte Stück des Albums ist "Früher (ist alles immer schöner als es heute werden kann)", das bereits Ende 2002 auf der wegweisenden ZickZack-Compilation "Bis auf weiteres eine Demonstration" zu hören war – und Mutter-Fans damals Anlaß zur Sorge gab. Denn die Lücke, die nach dem Fortgang von Gitarrist Frank Behnke aufklaffte, war unüberhörbar, der Sampler-Beitrag wirkte theatralisch, leer, wie eine Pose. "CD des Monats" jedoch beweist, daß das Lied tatsächlich Teil eines neuen Konzeptes ist, die Band immer noch über ein gewaltiges Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten verfügt und Behnkes Fortgang durch Neuzugang Achim Treu (Ex-Dauerfisch, Der Plan) gut kompensiert wurde. Das einzige, was der "CD des Monats" fehlt, ist ein Hit und Anspieltip - doch als Album wirkt es wesentlich kompakter als frühere Mutter-Platten.
Mutter ist eine Band, die sich nicht gut vermarkten läßt und will, und von Anfang an beschritt die Band eigenwillige Wege, nicht nur künstlerisch. Lange Zeit erschienen die Tonträger von Mutter auf dem eigenen Label "DEG – Die eigene Gesellschaft", das ist auch ein Grund, warum sich etwa das zeitlos schöne Album "Hauptsache Musik" von 1994 so schlecht verkaufte. "CD des Monats" erscheint ebenfalls an ungewöhnlicher Stelle, nämlich als auf 500 Stück limitierte und numerierte Platte auf Frank Maiers Raritätenlabel Vinyl on demand. Dieses ist bislang hautsächlich als anspruchsvolles deutschsprachiges Sammler- und Abonnentenlabel bekannt geworden, mit Neupressungen von 80er Jahre-Avantgardegruppen wie SYPH oder Tödliche Doris. Die Nähe zwischen Mutter und den Genialen Dilletanten-Pionieren erkennt man übrigens auch an dem Umstand, daß dem Mutter-Album eine Platte mit schönen und schrägen Filmkompositionen von Max Müller beigegeben wurde, die "Filmusik" heißt. Hier wie dort wurde ein Rechtschreibfehler programmatisch.
Leider steht zu befürchten, daß auch die jüngste Mutter-Veröffentlichung nicht die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Das ist traurig. Viele langjährige und älteste deutsche Bands veröffentlichen zur Zeit neue Tonträger – und man fragt sich warum. Diese Frage stellt sich beim neuen, fast 50 Minuten langen Mutteralbum zum Glück nicht. "CD des Monats" ist aus einem Guß, auf der Höhe der Zeit, wie geschaffen als Soundtrack für eine längere Autofahrt – und wahrlich ein Grund, seinen PKW mit einem Schallplattenspieler auszustatten.