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Oktober 2004
Christina Mohr
für satt.org


Alfred Hilsberg im Interview

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What's so funny about

Alfred Hilsberg,
Kassel, 25.9.04

Die Bedeutung Alfred Hilsbergs, legendärem Labelchef von What's so Funny About/ZickZack, für den deutschen Punk ist nicht hoch genug einzuschätzen. Er selber mag es aber gar nicht, wenn man ihn als "legendär" oder gar mythische Figur bezeichnet. Zu den Themenbereichen "gestern – heute – morgen" habe ich ihn während des Punkkongresses in Kassel befragt.


Wie stehst Du zum Punkkongress – findest Du die Idee albern oder war es für Dich klar, hierherzufahren?

Albern weiß ich nicht, jedenfalls konnte ich nicht drüber lachen. Ich fand das ganze Vorhaben etwas undurchsichtig – warum, wieso, weshalb …mir sind die Absichten der Veranstalter nicht ganz klar. Daß das ganze in Kassel stattfindet, ist natürlich eine absurde Geschichte. Wie Malcolm McLaren gestern schon sagte (während der Diskussionsrunde am 24.9., "The Aesthetics of Punk", Anm. CM), "in the middle of nowhere" einen Kongress über Punk laufen zu lassen, das kann nicht gut gehen. Man hätte stärker darüber nachdenken müssen; ich weiß, daß die Veranstalter ihre spezifischen Vorlieben für Kassel hatten, ansonsten gäbe es keine vernünftigen Gründe dafür, so etwas an einem solchen Ort zu machen.


Berlin, Hamburg, Düsseldorf..?

Ganz egal, jeder dieser Orte wäre auf jeden Fall authentischer. Und vor allem wären dort schon mehr Leute, die das interessiert. Hier sind einfach zu wenig Interessenten da: Warum sind die Konzerte nicht total ausverkauft? Warum kriegt man in der Stadt so wenig davon mit? Das wäre in Berlin, Hamburg, Köln was ganz anderes geworden, spannender auf jeden Fall. Viele potentielle Kongressteilnehmer, die etwas interessantes hätten beitragen können, sind auch gar nicht hier – wer fährt schon freiwillig in diese Gegend?


Na, zur Documenta pilgern doch die Massen nach Kassel.

Außerdem finde ich es nicht okay, daß während der Panels nur englisch geredet wird – ich verstehe es wegen der englischsprachigen Teilnehmer, aber welche Rolle Punk in Deutschland gespielt hat, das taucht hier nur marginal auf. Auch von den Teilnehmern auf dem Podium kommt da nur ganz wenig.


Ich war auch ganz peinlich berührt, wie schlecht Harry Rag und Thomas Groetz bei der gestrigen Diskussion (The Aesthetics of Punk, 24.9.) wegkamen, weil sie auf Englisch nicht das sagen konnten, was sie vielleicht hätten sagen wollen.

Es wäre doch sicherlich möglich gewesen, sie auf Deutsch erzählen zu lassen und das dann zu übersetzen.
Dazu kommt, daß so viele Leute fehlen, die man hätte einladen sollen, z.B. Blixa Bargeld, Holger Hiller oder Thomas Fehlmann oder Wolfgang Müller von der Tödlichen Doris.


Vielleicht sogar Campino?

Klar, da gäbe es ganz viele Leute, mit denen man eine Brücke von damals nach heute schlagen könnte. Es ist bis jetzt in den Diskussionen überhaupt nicht aufgetaucht, was aus Punk heute geworden ist – weil die Leute fehlen, die dazu etwas beitragen könnten. Aber daraus kann man ja für das nächste Mal was lernen, falls es eine Fortsetzung geben soll.


Wo siehst Du Deinen Platz hier – Du bist ja für viele eine mythische Figur, der Gottvater des deutschen Punk.

Völliger Blödsinn. Genauso, wie Malcolm McLaren nicht den Punk erfunden hat, völliger Quatsch. Auch ohne mich hätte Punk in Deutschland existiert, ich habe nur an bestimmten Punkten geholfen, etwas zu organisieren und an die Öffentlichkeit zu bringen. Mehr nicht. Andere haben daraus einen Mythos gebastelt. Viele Leute, die hier beim Kongress sitzen, sind nur deswegen hier, weil sie ihren Guru sehen oder gar anfassen wollen (McLaren) – was für eine seltsame Geschichte ist aus Punk geworden? Aber Punk, laß uns darüber nicht diskutieren. Ich habe mit Punk im klassischen Sinne sowieso nichts zu tun gehabt, der Drei-Akkorde-Klischeepunk hat mich nie interessiert. Alles, was Uniformität angeht, auch der von McLaren beschriebene subkulturelle Identitätsfindungsprozeß, hat mich nicht interessiert. Eher das, was von jeglicher Uniformität abgewichen ist, was experimentierfreudig und unkonventionell war. Ich fand früher die Leute spannend, die schon mit Elektroniksounds zu basteln begonnen hatten. Diese Entwicklung bis heute zu beobachten und zu unterstützen – das interessiert mich. Ich muß nur heute anders arbeiten als früher, da gibt es ganz große Unterschiede. Vieles ist anders geworden.


Punk hat aber Sachen möglich gemacht, die vorher nicht gingen, zum Beispiel Leuten eine Plattform zu geben, die unter anderen Bedingungen niemals an die Öffentlichkeit gedrungen wären:

Ja, das war für uns eine Ermutigung, ein Auslöser, etwas neues zu probieren – es gab ja auch vorher nix in dieser Art. In Hamburg war ein Vakuum – die legendäre "Hamburger Szene" um Otto Waalkes und Udo Lindenberg, die wird bis heute in den Hamburger Medien abgefeiert …


Trotz Hamburger Schule?

Die Hamburger Schule ist auch nur ein Phantom, die Hamburger Morgenpost ("MoPo") hat das Wort mal erwähnt und prompt haben Labels wie L’Age d’Or den Begriff marketingtechnisch als Verkaufsargument eingesetzt. Wir haben den Begriff nie verwendet und die Bands mit denen ich zu tun habe, haben sich dagegen immer gewehrt, wie zum Beispiel Blumfeld.


Wieder zurück zum Thema Punk:

Damals in den späten Siebzigern war Punk der totale Kick, Leute haben in die verschiedensten Richtungen und aus den verschiedensten Gründen für sich was draus gemacht. Das war eine Kulturrevolution von unten, selbst organisiert, das war, wenn man so will, eine Art von politischer Aktion, die viele Leute nicht als politisch begriffen haben oder nicht so definiert haben wollten. Aber faktisch, von der Bedeutung her, war es das. Schon der Begriff "independent", der mit Punk einherging, war ein ideologischer Begriff und kein Marktsegment oder eine Musikrichtung. Damals meinte der Begriff, dass man sich unabhängig von bestehenden Strukturen selbst organisiert und was eigenes auf die Beine stellt. Natürlich waren wir von den uns umgebenden Bedingungen so abhängig wie sonstwas. Und vor allem abhängig von Geld.


Erstaunlich, dass es Dein Label heute noch gibt und Du immer noch weitermachst.

Es macht immer noch Spaß! Sonst würde ich das nicht mehr machen. Der Druck ist zwischendurch natürlich groß, und die Drogenexzesse, die einem in früheren Perioden bis zum nächsten Tag geholfen haben, sind heute nicht mehr drin. Heute arbeiten wir völlig anders als früher – damals haben wir von einem Tag auf den anderen gelebt, heute muß ich gezwungenermaßen als Kleinunternehmer agieren und wirtschaftlicher denken. Ich muß kalkulieren, ob die Platte, die ich rausbringen möchte, am Markt überhaupt Chancen hat, ob die Band oder der Künstler die Chance hat, sich bemerkbar zu machen. Das ist ja das Wichtigste: wahrgenommen zu werden, was früher überhaupt kein Problem war. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre haben uns die Leute alles aus den Händen gerissen, ohne daß wir irgendeine Promotionplatte verschicken mußten. Heute müssen wir ganz gezielte Promotionaktionen fahren und agieren letztlich so, wie jede andere Plattenfirma auch. Und wir müssen uns überlegen, ob wir überhaupt noch weiter CDs machen! Oder ob wir vielleicht auf ein anderes Medium umsteigen, damit meine ich gar nicht mal das Internet, vielleicht machen wir wieder mehr Vinyl oder DVDs. Ich denke, daß sich die Wertigkeit von CDs, auf die sich alle viele Jahre verlassen haben, gegen Null sinkt.


Wie findest Du neue Künstler wie zum Beispiel Jens Friebe – wie kommt so jemand zu Dir? Oder ziehst Du durch Clubs, um Dir unbekannte Bands anzuschauen?

Weniger, dafür bin ich auch schon zu alt. Das habe ich auch hier wieder festgestellt: ich kann mir nicht mehr mehrere Nächte in Folge um die Ohren hauen, das schaff ich nicht mehr. Jedenfalls darf's nicht immer so spät werden, deswegen ist das Ausgehen auch immer sehr gefährlich, weil ich weiß, daß ich leicht versacke. Wenn mich wirklich was interessiert, gehe ich natürlich auch auf Konzerte und gucke mir das an. Wenn mir jemand sagt, da gibt's was ganz Tolles, das solltest Du Dir unbedingt anschauen‘, dann gehe ich da natürlich hin. Das war im Fall Jens Friebe auch so. Sandra Grether von Parole Trixi hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht, von daher wußte ich schon von seiner Existenz. Konkret wurde alles aber erst, als mich mitten in der Nacht ein gewisser Jochen Distelmeyer anrief und sagte, er hätte gerade jemand wahnsinnig Tolles gesehen, ich müßte unbedingt herausfinden, wer das sei, der könnte sein "Nachfolger" werden, der hätte was, was er zu Beginn seiner Karriere auch hatte. Das hat mich natürlich interessiert. Am nächsten Tag wußte ich dann, wer Jens Friebe ist, ich kannte nämlich Holm Friebe und fragte ihn, ob Jens sein Bruder wäre. So kam dieser Kontakt zustande und durch solche obskuren Geschichten läuft das oft. Am allerwenigsten läuft es dadurch, daß Leute Democassetten schicken. Aber das war schon immer so: man schafft es sowieso nicht, von den 5 – 10 Demos, die jeden Tag kommen, alle zu hören. Dazu kommt: wenn man über diese Leute schon reden würde, bräuchten sie auch keine Demos zu schicken! Über Jens Friebe zum Beispiel habe ich von einer jungen Band aus der Nähe von Ulm erfahren, die er ganz toll findet, Die Autos. Dann habe ich von denen ein Demo angefragt – und jetzt spielen die ein paar Auftritte mit Jens zusammen. Eine ganz junge Band, 19jährige Gymnasiasten, die ganz schlaue Texte machen. Die sind zwar noch sehr schulbubenhaft, machen aber tolle Beatmusik – aus denen könnte noch was werden.


Gibt es musikalische Strömungen, die Dich besonders begeistern - oder Dich im Gegenteil überhaupt nicht interessieren?

Am allerwenigsten interessiert mich Techno oder überhaupt das Feld ausschließlich elektronisch dominierter Tanzmusik – das können andere besser. HipHop interessiert mich auch nur am Rande, da wissen andere viel mehr drüber.


Du würdest keinen Künstler signen, weil er eine vielversprechende oder lukrative Richtung vertritt, die Dir aber nichts sagt?

Das könnte ich überhaupt nicht. Es gab allerdings Fehlgriffe in der Labelgeschichte. Vor allem zu der Zeit, als die allgemeine Ratlosigkeit sehr groß war, Mitte der Achtziger Jahre, als die Neue Deutsche Welle vorbei war und niemand wußte, was nun passieren soll. Da hat man sich vieles nicht getraut.


Können die vielen älteren Kongreßteilnehmer, wie Du ja auch einer bist, den jüngeren heute überhaupt noch etwas mitteilen?

Man kann schon versuchen, historische Zusammenhänge und nicht nur Anekdoten zu vermitteln. Aus den Fehlern lernen, die wir gemacht haben – allerdings müssen die jungen Leute ihren eigenen Weg finden. Es gibt heute etwas, das man "DIY" nennt – das ist nichts anderes, was wir früher unter dem Etikett "Independent" gemacht haben. Nur war das bei uns eindeutig politisch-ideologisch besetzt, als bewußte Inszenierung gegen die Strukturen der Gesellschaft. Heute ist es so, daß die Leute aus den bestehenden Verhältnissen, beziehungsweise der Vereinzelung heraus, weil es ja keine eindeutigen Bewegungen mehr gibt, wie es Punk war, sagen, "mach es selber". Viele glauben ja auch, daß im Internet die einzig seligmachende Perspektive zu sehen ist. Das glaube ich nicht. Die Leute werden merken, daß sie durch das Internet sehr isoliert sind – das Netz ersetzt nicht die persönliche Kommunikation.


Wie Du vorhin schon sagtest: die Leute haben Euch vor 25 Jahren die Platten aus den Händen gerissen, obwohl sie von deren Existenz kaum etwas wissen konnten. Heute gibt es einen Informationsoverkill und trotzdem ist es so viel schwieriger, wahrgenommen zu werden.

Ja, jeder macht sein eigenes Ding, es gibt keine wirklichen Jugendszenen mehr. Es findet nur punktueller Austausch statt. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen: Ein Jens Friebe beispielsweise setzt sich ja mit bestimmten gesellschaftlichen Erscheinungsformen auseinander. Und wie er das tut, irritiert die Leute, macht ihn für viele suspekt. Aber Künstler wie er sind Ausnahmen, und ich warte darauf, daß wieder eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, aus der sich etwas Neues entwickelt.


Glaubst Du, daß sich ein Phänomen wie Punk wiederholen kann?

Keine Ahnung. Vielleicht gibt es so etwas wie kollektiven Massenselbstmord, begleitet von ganz tollen, neuen Geräuschen. Und wir steigen alle auf gen Himmel und schreien. Aber ansonsten gibt es kaum noch Grenzen, die zu überschreiten wären. Das müßten schon sehr hysterische Geschichten sein, die da inszeniert werden müßten. Aber vergleichbar mit Punk? Das wäre sinnlos. Und Wiederholung gibt es nicht, es kann sich nichts wiederholen. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.