Die Sache mit der Offensichtlichkeit: Schon Michael Moore ist daran gescheitert. "Überbewertung durch Verachtung" nannte man einmal das, was in Folge des 11. Septembers mit der Figur von George W. Bush passiert ist. Ein als Dokumentationsfilm getarntes Agitprop-Projekt wie Moores Film "Fahrenheit 9/11" hat vielleicht selbst dazu beigetragen, dass der Präsident der USA noch weitere 4 Jahre seines Amts walten darf.
Die Sache mit der Offensichtlichkeit ist auch das Problem des honorigen Samplers "Protestsongs.de" (Lieblingslied/Alive), zumindest was die erste der beiden CDs betrifft. Der erste Teil dieser Zusammenstellung heißt nämlich "Hier und Jetzt" und versammelt vorgeblich zeitgemäßes, politisches Liedgut. Etwas Hamburger Schule, sehr viel Deutsch-HipHop-Soße mit viel Auftrag und Attitüde (zuviel Xavier Naidoo nach meinem Geschmack), dann etwas Kabarett der akzeptierten Art (Schamoni, Schneider, van Dannen) und zum Schluss Nachwenden-Ostrock.
Das "Hier und Jetzt" spielt sich so hauptsächlich zu Anfang der 90er Jahre ab: Identitätsfindungen, Ostalgie, neue Ausländerfeindlichkeit. Nicht, dass diese Problematiken nicht immer noch akut wären. Nur haben sich in den Zeiten von Hartz IV und gemeindeutschem Gedenktum wiederum neue, komplexere Probleme entwickelt. Die Protestsongs dazu fehlen noch, zumindest auf dieser Kompilation.
Aber was weiß man überhaupt vom Protestsong an sich? "Geht man davon aus, dass ein Protestsong gegen politische Verhältnisse protestiert, beginnt die Geschichte des Protestsongs in Deutschland erst in den späten Sechziger- und den frühen Siebzigerjahren", findet George Lindt im sehr detailreichen und lohnenswerten Booklet. Überhaupt tut es den meisten Liedern gut, wenn zeitliche Distanz sie ins Geschichtliche gehoben hat. Auf den Songs der zweiten CD, "Bleibende Werte", leben längst untergegangen geglaubte Betroffenheitslagen und ewige Wahrheiten der alten Bundesrepublik wieder auf: "Tschernobyl", "Ein bisschen Frieden", "Sonne statt Reagan", "Besuchen Sie Europa, solange es noch steht". Der Soundtrack zum Haus der Geschichte. Das ist natürlich sehr amüsant, für Spätgeborene bestimmt auch sehr lehrreich. Und natürlich unglaublich grotesk, was da im Namen des guten Willens so produziert wurde. Obwohl oft schon damals klar war, wie es geht und wie bitte nicht (BAP, Gänsehaut, Udo Lindenberg).
Am Besten ist die Kompilation immer dann, wenn wirkliche Überraschungen auftauchen. Lieder und Interpreten, mit denen nicht zu rechnen war. Andreas Doraus "Demokratie" wäre da zu nennen, auch Ina Deters "Neue Männer braucht das Land" als Ausdruck von Frühpostfeminismus und allgemeinem Umsturzwunsch, besonders aber Ottos großartiger Dada-Rap "Dupscheck" (von 1973!). Oder das vielleicht einzig wirklich subversive Stück, der Hazy-Osterwald-Schlager "Konjunktur Cha Cha". Musikalisch gefiel und gefällt das Stück bestimmt auch Trümmeroma und den anderen Wirtschaftswunderfrollein. Was bei dem Text nicht schlecht ist.
Trotz aller Arbeit rund um die Zusammenstellung, wie sie so umfangreich dokumentiert ist, haftet der Sammlung ansonsten leider etwas Vorhersehbares an. Deutsche Protestsongs? Klar, da dürfen auch die Scherben nicht fehlen oder "Deutschland muss sterben" von Slime. Aber wo ist eigentlich Wolf Biermann? Nicht, dass er wirklich vermisst wird. Aber merkwürdig ist es schon, dass die DDR nur im Nachhinein stattfindet. Aber mit Kritik, wenn nicht gar Protest, war ja zu rechnen.