Oh! L’Amour!
Leuten meines Alters wird es im Moment sehr leicht gemacht, sich wie einst im Mai zu fühlen: alle Lieblinge von damals sind wieder da, zum Teil mit richtig tollen Platten. Billy Idol zum Beispiel, Wedding Present oder New Order, die – ähnlich wie Erasure - niemals wirklich weg vom Fenster waren. Bemerkenswert ist, dass an den meisten die Zeit relativ gnädig vorübergegangen ist, und ausser ein paar Falten und Tränensäcken keine schlimmeren Verwüstungen verursacht hat.
Trotz aller Vorfreude plagen mich Zweifel vorm Erasure-Konzert: Wie wird das wohl?
Tuntenmaskenball, peinliche Discoparty oder gar feierliche Abschiedsstimmung auf Grund von Andy Bells HIV-Diagnose? Nichts von alledem – 22.00, der Vorhang geht auf, ein prächtiger, geheimnisvoll angestrahlter Märchenwald wird sichtbar, zwei wunderschöne Sängerinnen im Elfenkostüm erscheinen, und schließlich der mad professor und die Diva mit Engelsflügeln, Vince Clark und Andy Bell. Die beiden Anfangssongs geraten noch etwas hüftlahm, aber dann, nach dem dritten oder vierten Stück, spätestens bei The Circus, kommt Bewegung ins Geschehen, die anfängliche Unsicherheit fällt von allen Beteiligten restlos ab.
Andy Bell ist bester Laune, flirtet mit dem Publikum, macht launige Ansagen auf Deutsch ("hoffentlich haben Sie sich selbst genossen" haha) und tanzt, wie nur er es kann. Erasure zünden ihr Hitfeuerwerk, das in seiner Gänze offenbart, wie traurig die Charts der letzten zwanzig Jahre ohne diese Band ausgesehen hätten: Drama, Stop!, Who Needs Love Like That (Fans hatten sogar ein Transparent mit dieser Aufschrift mitgebracht), Respect, Victim of Love, Ship of Fools, Chorus undsoweiter, undsoweiter – die Auswahl der Songs macht gleichzeitig klar, dass Erasure eine klare Singlesband waren und sind. Aber auch die Songs vom neuen Album Nightbird wie Breathe oder Don't Say You Love Me werden gefeiert und vom Publikum textsicher mitgesungen. Vereinzelte Stimmen aus dem Publikum verlangen nach Abba-esque, darauf wird aber komplett verzichtet.
Andy Bell erklärt, dass die Frau, die er am allermeisten liebt, Debbie Harry von Blondie ist – was mich persönlich ganz außerordentlich freut – und Erasure spielen ihr zu Ehren Rapture. Andy verläßt die Bühne, um sich, mal wieder, umzuziehen und das Unglaubliche geschieht: Vince Clark, der stumme Mann von outer space, erhebt seine Stimme, nein, er rappt den Schlußteil von Rapture – hat man das schon mal erlebt? Unglaublich. Andy kommt wieder und zwar nackt, na, nicht ganz, mit blauer Glitzerbadehose, die den Blick auf seine Blinddarmnarbe freilegt (sonst auf nichts) und mit blauen Federfächern, um den schönen Blue Savannah Song zu performen. Mr. Bell zieht alle Register, wedelt mit den Fächern, küßt Vince Clark auf den Mund, rubbelt sich lasziv mit einem blauen Handtuch ab und das Publikum dreht beinah durch. Und es kommt ja noch Sometimes, einer der größten Hits von Erasure, zugleich Höhe- und Schlußpunkt des Konzerts. Nach anderthalb Stunden ist dann diese Feier der Liebe und der Schönheit vorbei, erschöpft und glücklich verabschiedet sich die Band, Andy Bell streut Sternenstaub und Flitter – ja, man kann das alles kitschig finden oder tuntig. Aber solche Menschen haben wohl kein Herz.