Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




August 2005
Katarina Mazurkiewicz
für satt.org


Calexico:
Spoke

Touchandgo 2005

Calexico live in Bielefeld (26.7.05)
   » amazon

   » Calexico

Calexico
Live in Bielefeld
(26. Juli 2005)

Traurig aber wahr, die sagenumwobenen "secret gigs" als solche sind seit der Erfindung des World Wide Webs etwas seltener, sagen wir "elitär" geworden. Kein Wunder, betrachtet man, wie einfach es dem Musikfan von heute gemacht wird, dank diverser in- und offiziellen Bandhomepages, Foren, Newsgroups und Mailinglists, an sämtliche Informationen rund um seinen Lieblingskünstler zu kommen. Jeder Musikinteressierte avanciert somit zum quasi Auserwählten und trotzdem hat das "geheime Konzert" über die Jahre hinweg zumindest den Rest seines Reizes für die Fans bewahrt.

Die engagierten Mitarbeiter des Bielefelder Forums schienen allerdings nicht allzu großes Vertrauen in die modernen Medien zu setzen. Bereits seit Wochen hing im Eingangbereich meines Lieblingsclubs ein selbstgemaltes Poster mit Konzertvorschau für die nächsten Monate mit einem dezenten Veranstaltungshinweis: "26.07 EL PICADOR (USA) = CALEXICO".

Dienstag Abend, kurz nach 21 Uhr. Auf den ersten Blick erkennt der staunende Forum-Stammbesucher, der Laden hat sich für den heutigen Abend besonders gut gewappnet. Vor dem Eingang gibt es sogar ein Absperrgitter als Trenner - ein Stück, soweit ich mich entsinne, aber immerhin. Die lustigen Pappschilder über den Türrahmen zeigen den (potenziell-) Verwirrten wo sie hingehören: "Gästeliste" links, "Die glücklichen Ticketbesitzer" rechts. Das Clubpersonal scheint heute besonders gereizt zu sein, irgendwie ist es vielleicht sogar verständlich, da ein solches Konzert eine ganz besondere Ehre für den Laden ist. Doch òla, was haben wir denn da? Die Veranstaltung ist, entgegen seit Tagen kursierenden Gerüchten, doch nicht komplett ausverkauft. Es gibt tatsächlich noch Restkarten zum, für Forum-Verhältnisse stolzen Preis von 28 Euro an der Abendkasse. Welch ein Glück … Das letzte Calexico-Konzert, das ich sehen durfte, was ebenfalls in derselben Location zwei Jahre zuvor stattfand, war dermaßen überfüllt, dass alle, die nicht direkt vor der Bühne Platz fanden, sich beklagten, man sehe nix und die Musik sei viel zu leise. Meine Hoffnung auf ein richtiges Klangerlebnis und vielleicht sogar diesmal einen Blick auf die Bühne erhaschen zu können, steigt mit jedem Schritt. Doch drinnen trifft die zwangszugezogene Bielefelderin zuerst die Hälfte der Stadt und Umgebung. Scheinbar ist am heutigen Abend jeder, der was auf sich hält, hier präsent. Der Smalltalk wird somit immer auf die gleiche Weise eröffnet: "Nanu, DU auch hier?!". Blöd nur, wenn darauf partout keine halbwegs intelligente und witzige Antwort einfallen will … Mit einer Flasche Cerveza, gebraut übrigens "um die Ecke" in Herford, in der Hand boxe ich mich durch bis fast ganz nach vorne. Es ist voll, aber auf eine angenehme Weise. Die Publikumsaltersspanne bewegt sich irgendwo zwischen sechzehn und fünfzig plus und ich vertreibe mir die Zeit mit raten, welche der Anwesenden gerade überlegen, wie um alles in der Welt all die Musiker gleich auf der kleinen Forum-Bühne Platz finden sollen. Gehörte ich nicht zu der mehrheitlichen Gruppe der Calexico-Konzertveteranen, hätte ich mir zweifellos genau diese Frage gestellt, angesichts eines Dutzends Gitarren, mindestens genauso vieler Mikroständer, eines Kontrabasses, Vibraphons, Keyboards, Laptops, Schlagzeugs und diversen kleineren Perkussionsinstrumenten, die sich dicht aneinander auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stapelten. Andererseits sollte auch der Fan bei den Auftritten der Jungs von der Tex –Mex-Grenze auf einige Überraschungen vorbereitet sein ….



Calexico live
(Foto: casadecalexico.com)

Kurz vor 22 Uhr geht es endlich los. Zuerst sind nur die beiden Calexico-Gründer John Convertino und Joey Burns zu sehen und hören. Das erste Lied des geheimen Konzerts heißt "Minas de Cobre" und stammt aus dem 1998er "The Black Light"-Album, dem zweiten Longplayer, der auch den Durchbruch für die Band bedeutete. Die Akustik-Performance entwickelt sich langsam zum vollen Klangerlebnis. Nach und nach betritt der Rest der Band die Bühne: Jacob Valenzuela, Paul Niehaus und die Deutschen Martin Wenk und Volker Zander, beide bereits seit der 1998er Tour als feste Bandmitglieder dabei. Die Technik streikt ein wenig und so überbrückt Joey Burns die Pausen zwischen den Liedern mit einem gemütlichen Plausch mit den Zuschauern. Äußerst charmant und kaum bemerkbar integriert er darin den Soundcheck und die Debatten mit den Herren am Mixer. Das Bielefelder Publikum scheint dies nicht im Geringsten zu stören. Das Wörtchen "secret" entwickelt sich zum running Gag des Abends. Joey trinkt ein "geheimes" Getränk (was verdächtig nach Wasser aussieht), spricht und singt ins "geheime" Mikrophon, das wie ein uraltes Radio, oder Grammophon klingt und irgendwann ebenfalls den Geist aufgibt. Eine Lichterkette in Form von roten Chilischoten umwickelt seinen Mikroständer. Das darin steckende Gerät fängt ebenfalls an zu streiken. "Die Chilischoten sind so empfindlich ….Na gut, dann spielen wir eben ein instrumentelles Stück …" verkündet der Sänger gelassen "wir hatten zuvor einen seeehr langen geheimen Soundcheck gehabt!".

Mittlerweile dürfte auch der letzte mitgeschleppte Depp im Publikum geschnallt haben, wozu das immense, ausgestellte Instrumentarium auf der Bühne gut ist. Ich jedenfalls kann mir kein besseres Beispiel vorstellen, um den Begriff "Multiinstrumentalist", hier definitiv als Plural anzuwenden, zu erklären. Es ist ein "secret gig" und wir alle horchen nach neuen Calexico-Liedern, da gerade sie auf Livequalitäten zu überprüfen, normalerweise für eine Band das primäre Ziel solcher Veranstaltungen ist. Das Sextett hat tatsächlich einige neue Stücke zwischen den altbewehrten Klassikern wie "Quattro", "El Picador" und "Frontiera" untergemischt, nur - sie werden leider nicht angesagt, also läuft das fröhliche Rätselraten durch die Zuschauerränge: "Ist es etwa neu …?, nein, wohl doch nicht …." Zwei grandiose, obgleich bereits bekannte, Coverversionen wurden dargeboten: "Alone again or" von Love - einer der meistunterschätzten Popbands der Welt und "Jesus & Tequila" - im Original von den Minutemen. Es wird immer deutlicher hörbar, der Calexico Sound hat sich, zumindest live, etwas verändert. Er ist ein kleines bisschen weniger Tex-Mex Folklore (insbesondere im Vergleich zu der 2000er Tour mit der Mariachi Band), dafür wiederum etwas mehr Songwriter-lastig geworden. Die Balance zwischen Fiesta and Melancholie wird dabei natürlich weiterhin perfekt gehalten. Die in den meisten Stücken präsenten Trompeten klingen derweilen zugleich "mexikanisch" und jazzig und das ist wirklich großartig. Das Publikum scheint auf jeden Fall das Gipsy-Kings-Feeling aus der Vergangenheit gar nicht zu vermissen. Das kollektive, überglückliche Grinsen macht sich breit. Eine relativ einfach gestrickte und doch irgendwie schwerdefinierbare Musik ist es, was wir seit je her von Calexico geboten kriegen. Musik, die wie direkte Streicheleinheiten für die Seele wirkt. "Wer noch nie richtig gelitten hat, der kann es wahrscheinlich nicht richtig verstehen" seufzt der befreundete Radiojournalist, der neben mir zusammen mit einer bekennenden Heavy- Metal-Anhängerin im Rhythmus der Lieder schaukelt. Die wirklichen "Konsenskünstler" kann man an den Fingern einer Hand abzählen. New Order - vielleicht, Johnny Cash - ja, unbedingt und eben die sechs äußerst sympathischen "Normalos", die ihr Bühnenoutfit anscheinend bei Karstadt auf dem Wühltisch mit den Freizeithemden gefunden haben. Was macht denn nun einen Calexico-Konzertbesuch zu einem ganz besonderen Erlebnis? Schwer zu sagen. Jeder Song ist wie ein meisterhaftes Puzzle, zusammengesetzt aus verschiedensten Klängen, die aber am Ende immer den unverkennbaren Calexicosound ergeben. Nicht umsonst haben sich die Masterminds Joey Burns und John Convertino gegenseitlich als "Frankensteins of Instruments" beschimpft, aber auch der Rest der Band besteht aus begnadeten Multiinstrumentalisten, was sich natürlich sowohl im Studio als auch (und sogar noch mehr) auf der Bühne auszahlt. Sie sind ein perfekt eingespieltes Team, eine Klangmaschine, die trotzdem genügend Spielraum für Solobeiträge lässt. Und so darf der Trompeter Jacob Valenzuela ein Stück auf Spanisch vortragen. Danach kommt "Crystal Frontier", seines Zeichen der Vorbote des "Feast of Wire"-Albums, von dem auch die meisten der Lieder am heutigen Abend stammen. Eine 20minütige Version, die grandios den "offiziellen" Teil des Konzerts abschließt. Frenetischer Applaus folgt und weitere vier Zugaben. Nach "Corona" ist aber leider endgültig Schluss. Die Lichter gehen nach 120 Minuten Hörvergnügen an. Das Publikum kann es noch nicht richtig glauben, dass es alles gewesen sei. Minutenlang versuchen wir, die Band wenigstens für ein einziges Lied auf die Bühne zu locken. Vergebens. Es war ein phantastischer Abend im Bielefelder Forum dank Calexico, aber auch dank der gar nicht so wie in der ostwestfälischen Metropole normalerweise üblich reservierten Zuschauer.

Obwohl, eine kleine Episode störte etwas mein allzu perfektes Empfinden. Als ich gerade schnell zur Theke huschte, um Biernachschub zu besorgen, traf ich im Foyer erstaunlich viele Leute. Manche saßen rum, spielten Kicker und schienen sich um das Geschehen drinnen gar nicht zu kümmern. "Nanu, für eine solch hochkarätige Band und bei den Eintrittspreisen ist hier vorne aber erstaunlich viel los" lächelte ich höflich einen vor mir stehenden Herren an. "Kein Wunder bei der langweiligen Musik!" schleuderte er mir griesgrämig entgegen. Achja - der Gruppenzwang. Es ist eine hippe Band, ich bin ein hipper Mensch, also MUSS ich hin, scheißegal, ob ich mit der Musik was anfangen kann. Wie traurig, aber wahrscheinlich hat der Herr in seinem Leben einfach noch nicht genug gelitten … Sich zu Tode langweilen und dabei doch "mega-in" sein kann man zum Beispiel genauso gut beim Golf spielen. Man bleibt unter blasierten Gleichgesinnten und durch die Bewegung an der frischen Luft tut man sogar etwas für die eigene Gesundheit. Ein positiver Nebeneffekt solcher Aktion: Der wahre Calexico-Fan wäre den armen hippen profanen Idioten sehr dankbar!