Mit Punk wurde in den letzten Jahren schon so einiges angestellt: Ausstellungen, Kongresse, unzählige Abhandlungen, Compilations und nicht zuletzt eine von H&M-gesteuerte Retrowelle zeugen von den mannigfaltigen Versuchen, sich einem Phänomen zu nähern, dessen Erschütterungen und Errungenschaften bis heute nachhaltig wirken und das als Jugendbewegung musikalischer und modischer Art höchstens noch vom guten alten Rock’n’Roll oder HipHop das Wasser gereicht bekommen kann.
Und nun ein Coffeetable-Book. Wobei der Tisch, auf dem man diesen gewaltigen Band präsentiert, sehr stabil beschaffen sein sollte: PUNK. ist 400 Seiten dick, großformatig (27,1 x 29 cm) und zweieinhalb Kilo schwer. Also bitte nicht auf dem fragilen Teetischchen platzieren, lieber eine Holzplatte über eine Bierkiste legen oder gleich aus Ytongsteinen etwas Passendes mauern.
Ausgerechnet die Collection Rolf Heyne, sonst eher bekannt für Prominentenkochbücher und Hochglanzwerke über erlesene Automobile hat sich der Übersetzung dieses Klotzes angenommen. Die Originalausgabe ist bereits 2001 bei Cassell/London erschienen und offenbar haben sich viele deutsche Verlage nicht getraut, dieses publizistische Mammutunterfangen auf sich zu nehmen. Umso dankbarer sollte man der Collection Rolf Heyne sein, PUNK. ersetzt den Kauf und Besitz vieler anderer schmalbrüstiger Bände.
Die Autoren Steven Colegrave und Chris Sullivan sind verdiente Experten, was die Punkhistorie angeht: Colegrave spielte in verschiedenen Punkbands, entwickelte eine Vorliebe für Bondageklamotten und verkaufte unter anderem 18 000 Bakelittelefone, bevor er Filmproduzent und Marketing Director Europe für Saatchi & Saatchi wurde; Sullivan sang bei Blue Rondo á la Turk, nähte Bühnenoutfits für Adam Ant, Madness und Spandau Ballet und wurde folgerichtig Moderedakteur für GQ. Außerdem schreibt er für The Face, Loaded, The Independent und die Times.
In Interviewauszügen und Zitaten kommen die Protagonisten der Punkära selbst zu Wort – Legs McNeil und Gillian McCain in Please Kill Me oder Clinton Heylin in From the Velvets to the Voidoids verwendeten zwar schon einige Jahre früher diese Art von Oral History, aber die Künstler selbst sprechen zu lassen, scheint der einzig legitime Ansatz zu sein, eine Epoche/einen Lebensstil/eine Musikrichtung darzustellen, die sich wie keine andere zuvor und danach einer einheitlichen Klassifizierung entzog.
Die Kapitel behandeln die Zeit von 1975 (und früher) bis 1979 (und später), am Ende wird "Das Beste am Punk“ aber auch „Das Schlimmste am Punk“ resümiert – inklusive eines aktuellen Modefotos, auf dem ein Topmodel ein „echt irres“ Punk-T-Shirt mit dem Konterfei von Sid Vicious trägt. Ein umfangreicher Anhang (Literaturhinweise, Websites, Personenregister) rundet das epochale Werk ab. Hunderte von Fotos, viele davon wirklich noch nirgends veröffentlicht, illustrieren den Werdegang der New York Dolls, verharren eine Weile bei den Sex Pistols, streifen die Dub- und Reggaeszene der späteren Siebziger Jahre, die Punkstars wie Johnny Rotten/John Lydon einen Ausweg aus den manchmal starren Mustern des britischen Punkrocks zeigten. Dass Punk(rock) nicht nur großbritannisch, sondern auch und vielleicht sogar genuin amerikanisch geprägt ist, wird anhand der New York Dolls, Iggy and the Stooges und natürlich der Ramones beschrieben. Auch die weibliche Seite des Punk wird in diesem Buch endlich einmal ausgiebig gewürdigt: von Debbie Harry über Lydia Lunch, Gaye Advert, Patti Smith, Siouxsie Sioux und Poly Styrene kommen so ziemlich alle Heroinen der Epoche in Wort und Bild vor. Am Ende wird der Punkbogen noch bis zu Regisseuren wie John Waters (Pink Flamingos, Hairspray) gespannt: zu Recht, denn wenn diese Filme kein Punk sind, was dann?
Erscheint PUNK. in der vorliegenden Darreichungsform (schwer, massiv, immobil) zunächst paradox, um das flüchtige und amorphe Wesen des Punk zu ergründen, erweist es sich aber als unverzichtbares Nachschlagewerk, Kompendium, überbordendes Füllhorn, vollgepackt mit Anekdoten, Schnappschüssen, hohlem Gerede und gewichtigen Bonmots. Es wird klar, dass Punk niemals nur aus der Musik bestand, Mode, Style und Attitude machten mindestens die halbe Miete aus. Vivienne Westwood ist genauso wichtig für Punk wie Joe Strummer; Magazine wie Sniffin‘ Glue ebenso wie Andy Warhols Factory. PUNK. zeigt alle Geburtskanäle, Stammbaumverzweigungen und Sackgassen, und wer nur Bilder gucken will, wird hier auch glücklich.
Schade nur, dass auf unbeabsichtigt punkrockige Art das Lektorat vernachlässigt wurde: Der Klappentext strotzt vor Fehlern (Malcom McLaren, The Indipendent, The Heartbreackers, Siouxie …), die man bei einem billigen Paperback generös übersehen oder lustig finden könnte, für immerhin 50 Euro erwartet man doch etwas mehr Sorgfalt.