Falls es noch nicht durchgesickert sein sollte: Wir leben in einer postmodernen Welt. Bestes Beispiel dafür ist, dass es heutzutage egal zu sein scheint, aus welchen größeren Zusammenhängen (Nationen, Landschaften) eine Musik kommt. À la: Die beste Polka wird immer noch in Kenia gespielt; und Techno kann durchaus aus den Alpen kommen, warum nicht? Im Folgenden drei Neuerscheinungen dieses globalen Phänomens; drei Platten gegen die Klischees ihrer jeweiligen Produktionsbedingungen. Drei Platten für den postnationalen Kongress in dir. Oder einfacher: drei Platten aus drei Nationen mit übernational guter Musik.
WENN FRANZOSEN POPPEN: Dann kommt nicht immer so etwas Anzügliches heraus wie die vorliegende Platte von Doubleman, "Lick" (Platinum/Alive). Dieses Männerduo aus Bordeaux hat so überhaupt nichts von Air, Daft Punk oder Phoenix, dass es fast eine Freude ist. Stattdessen klingen ihre Stücke nach in die Neuzeit übersetzte 13th Floor Elevators (Sixties-Band mit Roky Erikson) mit einem Schuss Prince. Zeitgemäßer Retrorock mit Popappeal und Sex Touch also, durchaus anschließbar an Sachen wie Pink Grease oder The Electric Six, falls sich noch jemand an die erinnert. Gäbe es noch ernst zu nehmendes Musikfernsehen, hätten die beiden mit "She's So Magic" bestimmt auch einen veritablen Hit. Und mit Julie Delpy haben sie auch ein Gesicht und die Stimme zur Nachfolgesingle "House Arrest". Was für ein Gastauftritt, was für ein Duett! Darüber kann man ihre Filme glatt vergessen. Ebenfalls nicht ohne: die Bezirzballade "All I Need" sowie die Fellatio-Hymne "In the Backroom". Guter Gutelauneimbettsound, nur zu empfehlen.
WENN ITALIENER REITEN: Stellt man sich höchstens die unendlichen Weiten der Emilia Romagna vor. Mit Eseln statt Pferden. Bei Midwest muss also eine Landschaftsverwechslung vorliegen: Die vier Männer kommen aus Varese, was irgendwo bei Mailand liegt und nur mit Wohlwollen dem Mittelwesten Italiens zugeordnet werden kann. Auf ihrer Platte "Whatever You Bring We Sing" (Homesleep/Cargo) herrscht die gute alte Country-Musik amerikanischer Prägung vor, schön angeschrullt mit Farfisa-, Moog- und Hammondorgeln und anderen eher artuntypischen Instrumenten (lediglich das Banjo ist sehr präsent; das Steelpedal-Bügelbrett fehlt dafür gänzlich). Die Platte fängt mit "Release the Catch" sehr ruhig an und hoppelt sich dann in eine Schaukelstimmung, die in "Chewing Its Name" ihren Höhepunkt findet. Midwest entpuppen sich dabei als Band, die Prärie mit Rummel zusammendenken kann. Die eine Platte nicht nur für Liebhaber des Spagettiwesterns (sorry, dieser Begriff musste fallen) gemacht haben, sondern tatsächlich für alle, die sich immer schon als Besucher einer globalen Dorfkirmes gefühlt haben. Einsam, aber betrunken. Italienische Texte wären der Hammer gewesen, aber das ist nur Kritikers Wunschdenken.
WENN AMERIKANER SICH MATT FÜHLEN: Von ganz anderem, tja: intellektuellem Kaliber ist natürlich die neue Platte von The American Analog Set, einer Band, die inzwischen auch für ihr Labelhopping bekannt sein dürfte. Ihr sechstes Werk "Set Free" jedenfalls kam jetzt bei der Berliner Vorzeigefirma Morr Music unter (Vertrieb: Hausmusik/Indigo). "Set Free" wirkt erheblich reduzierter als der groovige Vorgänger "Promise of Love", dafür im Zusammenspiel zwischen Lo-Fi-Gefühl und Lo-Fi-Sound konsequenter. Immer beklemmt und beklemmend, immer zärtlich. Die Akkorde hängen schwer, das Vibrafon klingt leicht, die Orgel dröhnt, Andrew Kennys Gesang gibt sich als weiches Kissen, mit dem das Unglück zurückgeschlagen werden kann. Slow Core gegen die Flüchtigkeit des Augenblicks, gegen die Unberechenbarkeit der Liebe. Kein Wunder, dass die Band aus Austin, Texas in der Mitte des Albums "JR" von Codeine covert – deren Überplatte "Barely Real" steht diese hier auch sonst in nichts nach. Eine sensible Schönheit, in "(Theme from) Everything Ends" mit überraschendem Western-Harmonika-Einsatz. Platte des Jahres für Grübelmonster, aber natürlich nichts für Menschen, denen Begriffe wie Introspektion und Existenzangst ewiglich fremd bleiben werden.