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Melbourne, Anfang der 90er Jahre: Violinist Warren Ellis, Gitarrist Mick Turner und Schlagzeuger Jim White sind nicht erst seit gestern in der Punkszene Australiens unterwegs. Sie haben viel gehört. Und viel gesehen. Aber dass es einmal am nötigen Geld für die Miete fehlen würde, das hat bis jetzt außerhalb ihrer Vorstellungskraft gelegen. Der Punkt ist erreicht, an dem 10 Jahre zuvor Einstürzende Neubauten-Schlagzeuger N.U. Unruh sein Instrument verkaufen mußte, um es aus Industrieschrott neu zusammen zu bauen. Die drei Australier entscheiden sich dafür, ihre Produktionsmittel zu behalten. Treten anfangs in einer Bar auf und liefern atmosphärische Hintergrundmusik. Bald schon machen sie aus der Not eine Tugend. Als Band ohne Sänger beginnen sie, die Schnittstelle zwischen Surf-Instrumentals und der australischen Swamp-Rock-Tradition zu erkunden. Spielen 1992 in echter Punk-Rock-Manier eine Kassette ein, die sie auf ihren Konzerten unter das Publikum bringen. Zwei darauf Jahre darauf das Debüt „Sad And Dangerous“ – seitdem konnten sie auf mittlerweile 7 Studioalben beweisen, wie Dramatik und Melancholie einer wie auch immer durchlebten Nacht adäquat ohne Worte transportiert werden können. Am 06. November haben sie im Berliner Mudd-Club ihr neues Album „Cinder“ vorgestellt. 19 Song-Miniaturen, die sie im Sommer diesen Jahres im Keller eines Strandhauses an der Südostküste Australiens aufgenommen haben. Zwischen Kolonien von Sturmvögeln und Pinguinen ist ihnen ein würdiger Abschied von Australiens Independent-Guru Mick Geyer gelungen. „Cinder", von Gitarrist Turner wieder liebevoll graphisch gestaltet, ist dem 2004 im Alter von nur 51 Jahren Verstorbenen gewidmet. Wie auch bereits „Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus", Nick Cave & The Bad Seeds Doppelalbum aus dem Vorjahr, zu dem Ellis als Songwriter maßgeblich beigetragen hat. Seit Mitte der 90er Jahre ist er festes Mitglied in Caves Allstar-Band. Mit seinem australischen Kollegen hat er gerade den Soundtrack zu „The Proposition", einer Art Gothic-Western unter der Regie von John Hillcoat, fertiggestellt. Beide haben für das Londoner Vesturport Theatre at the Barbican Songs für eine Neuinszenierung von Büchners „Woyzeck“ geschrieben. Turner und White firmieren als Duo unter dem Namen Tren Brothers und sind gesuchte Gastmusiker. Ihre Miete können die drei mittlerweile pünktlich zahlen. satt.org hatte vor dem Soundcheck die Gelegenheit, einen aufgeräumten und freundlichen Warren Ellis zur neuen Platte und zu den Koordinaten des Dirty Three-Sounds zu befragen. Und gemeinsam eine Definition von Punk zu versuchen. Warren, herzlich willkommen in Berlin. Du hast einmal mit der deutschen Diva Ute Lemper auf ihrem Album „Punishing Kiss“ (2000) zusammengearbeitet. Was sind Deine Eindrücke von Deutschland und speziell Berlin? Ich freue mich, hier zu sein und die Weite der Stadt beeindruckt mich jedesmal. Und - leider habe ich jedesmal wenig Zeit. Es gibt natürlich die Verbindung über die Bad Seeds. Aber ich denke immer an die Musik. An die Einstürzenden Neubauten, natürlich. Ich mag Blixa sehr. Dann an solche Bands wie Can und Neu! Kraftwerk? Klar. Genauso viel klassische Musik. Speziell Beethoven, den ich ganz besonders gerne höre. Und Robert Schumann. Beim genaueren Hören eures neuen Albums fällt auf: Die Stücke sind streckenweise kürzer, minimalistischer als bisher gewohnt, die Instrumentierung deutlich abwechslungsreicher. Neben Geige, Gitarre und Schlagzeug habt ihr diesmal u.a. Bouzouki, Mandoline und Dudelsack in euren Sound integriert. Es ist schön und schlicht zugleich geworden. Oh, danke. Jetzt willst Du sicherlich wissen, ob dahinter ein Konzept steckt. Ja, das tut es. Für „Cinder“ wollten wir unserer Musik einen weiteren Rahmen als bisher geben. Es sollte gewohnt und doch neu klingen. Schön, dass es offenbar funktioniert. Nochmals vielen Dank. Kritiker haben bemerkt, dass „Cinder“ eure erste Platte mit Gastsängern ist. Wollen wir sie an dieser Stelle korrigieren? Ja, gerne. Auf „Horse Stories“ (1996) singst Du gemeinsam mit Andria Degens. Wie auch immer: Ihr habt euch diesmal Chan Marshall alias Cat Power und Sally Timms von den Mekons ins Studio geholt. Wie sieht eure Beziehung zu beiden Künstlerinnen aus? Chan kennen wir schon lange. Mick und Jim haben sie bereits auf „Moon Pix“ (1996) begleitet. Bei „You Are Free“ (2003) bin ich dann mit von der Partie gewesen. Sie ist einfach eine wunderbare Musikerin und Songwriterin. Sally war gemeinsam mit den Mekons in der Stadt, als wir „Cinder“ aufgenommen haben. Wir mögen beide seit langem. Chan und Sally haben einen sehr eigenen Blick auf die Musiktradition. Es war für uns auch gar nicht so außergewöhnlich, mit ihnen zu arbeiten. Klar kennt man uns als Instrumentalband. Aber ist die Stimme nicht auch ein Musikinstrument? Auf „Cinder“ interpretiert ihr einen Song des ungarischen Geigers Lajkó Félix. Er ist in Ungarn und Serbien sehr populär, hier aber nahezu unbekannt. Woher stammt die Idee, „The Cither Player“ auf dem Album unterzubringen? Dabei bin ich auf Lajkó Félix gerade hier in Berlin gestoßen. Es war 1996, als mir ein Freund eine Kassette in die Hand drückte und sagte: „Ich verspreche Dir, dass Dir dass gefallen wird". Er hat Recht behalten. Félix ist seitdem einer meiner absoluten Lieblingsmusiker. Thema Einflüsse. Eure sind weitgefächert. Country, Jazz und Improvisierte Musik lassen sich heraushören. Ebenso Traditionelles aus Irland, der Türkei oder dem Balkan. Fehlt irgendetwas? Rock. Nenn es ruhig Rock. Aber es stimmt. Wir sind einfach sehr neugierig, hören viel, probieren eine Menge aus und versuchen, das dann zu verarbeiten. Wollen wir das an Namen festmachen? Ich vermute Johnny Cash, John Coltrane und The Velvet Underground. Ganz klar. Und wenn wir dabei sind: Strawinsky, Miles Davis und Rahsaan Roland Kirk. Bob Dylan immer wieder. Neil Young. Die neuen Sachen von Smog sind wunderbar. Jim spielt auf „A River Ain’t Too Much To Love“ (2005) mit. Eine große Rolle spielt die Musik von Namenlosen, Straßenmusik – es würde eine lange Liste werden. Stichwort Jazz. Wie ist das Verhältnis von Komposition und Improvisation in eurer Musik? Uns ist beides gleich wichtig. Was jeweils überwiegt, ergibt sich konkret aus der jeweiligen Platte, dem jeweiligen Song. Über die Jahre habt ihr mit unzähligen Musikern zusammengearbeitet. Nick Cave, Robert Forster, The Walkabouts, Bonnie ’Prince’ Billy aka Will Oldham, um nur einige zu nennen. Gibt es jemanden, der auf eurer Wunschliste ganz oben steht? Eigentlich ist uns jeder willkommen, der Lust hat. Ganz persönlich möchte ich Bob Dylan nennen. Ja, er steht wirklich ganz oben. Andererseits hätte ich da fast Angst. Ich bin wirklich großer Fan, und wer weiß, ob mir das nicht etwas vom Mythos Bob Dylan nimmt. Es gibt einige wenige Bands, die ein ähnliches Feld bearbeiten wie ihr. Ihr habt einmal mit den Schotten von Mogwai zusammen gespielt. Friends Of Dean Martinez fallen mir noch ein. Friends Of Dean Martinez? Ehrlich gesagt, kenne ich die gar nicht. Sie spielen Americana-Instrumentals. Imaginäre Soundtracks, euch nicht ganz unähnlich. Etwas elektronischer. Das klingt natürlich vielversprechend. Guter Hinweis. Ja, und an Mogwai erinnere ich mich noch. Superbe Musiker. Ihr stammt aus Australien. Was immer wieder auffällt, ist die Reiselust australischer Musiker. Nick Cave in Berlin, Sao Paulo und an der Küste Englands. Hugo Race, den es nach Sizilien verschlagen hat. Kannst Du dir das erklären? Das ist relativ einfach. Als Australier lebst du buchstäblich am Rand der Welt. Kriegst vieles mit und bist doch isoliert. Wer einmal den Sprung nach Europa oder Amerika geschafft hat, will meistens nicht mehr in die Abgeschiedenheit zurück. Und das Reisen bist du als Australier gewohnt. Es gibt die Theorie, wonach der cinematographische Sound vieler australischer Bands von der Weite der Landschaft, der Wüste im Inneren, herrührt. Ich glaube nicht, dass viele der australischen Musiker diese Landschaft jemals gesehen haben. Das ist eher eine romantische Interpretation als eine wirkliche Erfahrung, denke ich. Wo ist das her? Aus einer Besprechung der Laughing Clowns. Laughing Clowns – das war doch Ed Kueppers fantastische Band in den 80ern. „Mr. Uddich-Schmuddich Goes To Town“ (1982) ist eine großartige Platte. Und leider kaum mehr zu bekommen. Aber da gibt es jetzt „Cruel But Fair", das gesammelte Werk auf drei CDs. Eine absolut verdiente Wiederveröffentlichung. Werfen wir bei dieser Gelegenheit einen Blick zurück. Ihr seid in der australischen Punkszene großgeworden. Mick und Jim haben in etlichen, mittlerweile leider vergessenen Bands gespielt: Sick Things, Venom P. Stinger, The Moodists und Fungus Brains. Gibt es Pläne, diese Raritäten ebenfalls neu zu verlegen? Das wäre auf jeden Fall eine gute Idee. Alle diese Bands waren auf ihre Art fantastisch. Und es war eine aufregende Zeit. Übrigens, Dirty Three sind immer noch eine Punkband. Vom Sound her vielleicht nicht, aber von der Haltung her absolut. Dem Zitat Rowland S. Howards, wonach Punk Inhalt und nicht Stil sei, würdest Du vermutlich zustimmen. Ja, auf jeden Fall. Recht hat er! Worte, denen Ellis, Turner und White wenig später Taten folgen lassen werden. Sie sind nicht allein nach Berlin gekommen. Für den Auftakt sorgt Josh Pearson, auf Solopfaden wandelnder Sänger von Lift To Experience, deren „The Texas - Jerusalem Crossroads“ (2001) von Bands wie Hope Of The States, Explosions In The Sky und The Duke Spirit als maßgebliches Vorbild genannt wird. Der Sohn eines Südstaatenpredigers hat sein selbstgewähltes Exil in der texanischen Wüste verlassen, um Songs eines für 2006 angekündigten Albums vorzustellen. Die gemeinsame Tour mit den Dirty Three könnte als Rahmen nicht passender gewählt sein. Ein mit Nick Cave & The Bad Seeds Moritaten von Schuld und Sühne vertrautes Publikum gibt sich schnell interessiert und bald begeistert. Verlangt Zugaben von Pearson, der, unterstützt nur von einer Akustikgitarre, die unruhigen Geister von Jeffrey Lee Pierce und Ian Curtis beschwört. Den Namen wird man sich merken müssen.
Lob an dieser Stelle den Veranstaltern: Ob es dem Sonntagabend oder dem speziellen Charakter der Musik geschuldet ist – das Konzert der Dirty Three beginnt für Berliner Verhältnisse pünktlich. Und mit einer Intensität, die in den folgenden reichlich 90 Minuten kein einziges Mal auch nur ansatzweise nachlässt. Ellis ist dabei der einzige Musiker, dem man es gerne nachsieht, wenn er sein Konzert mit dem Rücken zum Publikum absolviert. Sei es aus Gründen der Kontemplation oder der Kommunikation mit den Musikern – er revanchiert sich mit charmanten Ansagen und Anekdoten zu den Songs. Seine weitgespannten Melodiebögen, Turners impressionistischer Gitarrenstil und Whites vulkanisches Schlagzeug beantworten jede Frage nach Rock oder Post-Rock von selbst. Die Dirty Three, zweimal mit Pearson im Quartett, spielen sich durch ihr in knapp 15 Jahren gesammeltes Material. „Kim’s Dirt“ aus der Feder von Kim Salmon holt den Staub der australischen Wüste auf das Berliner Pflaster. „Sue’s Last Ride“ komprimiert „Leaving Las Vegas“ in einen 10-minütigen trunkenen Walzer. Die Miniaturen ihres neuen Albums verwandeln sie in Balladen epischer Länge. Dirty Three-Songs können leise beginnen, um im Zusammenspiel der Musiker in lautstarken, grellen Klangkaskaden zu enden. Oder sich aus einem scheinbar planlosen Feedback zu Momenten rauher Romantik und reinster Magie entwickeln. Im Zeitalter von Formatradio und MTV wirkt ein Begriff wie Katharsis in der Rockmusik deplaziert. Nichts weniger als seine Rehabilitation ist es, was den Dirty Three an diesem Abend gelingt. Auf der kleinen Bühne des Mudd-Club entfaltet das Trio die Dynamik eines ganzen Free-Jazz-Orchesters. Strawinsky, Trane und Miles wären stolz auf sie. Eine Zugabe ist völlig unnötig. Gibt’s bei „Citizen Kane“ auch nicht. |
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