Wunder und Wissenschaft
DD muß man nicht mehr vorstellen, oder? Von 1979 bis 1983 Redakteur bei Sounds, 1985 bis 2000 Redakteur und schließlich Herausgeber der Spex, eloquenter Godfather der intellektuellen Poplinken, Verfasser von Büchern wie „Sexbeat", „2000 Schallplatten“ oder „Der lange Weg nach Mitte", arbeitete als Hochschullehrer in Berlin, Weimar, Stuttgart und auch Pasadena, schreibt für verschiedene Zeitschriften; mit seinem Output kommt allerhöchstens noch Georg Seeßlen mit, ebenfalls ein elder Statesman, der sich in ähnlich beseelter Weise dem Film widmet.
Zwischen Herbst 2000 und Sommer 2004 erschien im Berliner „Tagesspiegel“ die Kolumne „Musikzimmer", die neben Diederichsen auch von Menschen wie Rainer Moritz und Lutz Hachmeister geschrieben wurde. Die Kolumne sollte dem Schreiben über Musik im Allgemeinen Raum geben, nicht über eine bestimmte Art (Pop!), sollte aber keinesfalls als Kaufempfehlung mißverstanden werden. DD's Kolumnen, 62 an der Zahl, liegen nun gebündelt als KiWi-Paperback vor und lohnen vorbehaltlos die Lektüre (ups, war das jetzt eine Kaufempfehlung?). Nicht nur, weil Diederichsen seine Einleitung mit einer Blondie-Textzeile beginnt ("All I want is a room with a view / A sight worth seeing, a picture of you"; Picture This), sondern weil seine unfaßbar kenntnisreichen, teils sehr theoretischen, aber immer mit dem Herzen des Musiclovers geschriebenen Texte das Beste sind, was der Popjournalismus bieten kann – auch wenn der Autor mit fast 50 Jahren das Durchschnittsalter des Popfans scheinbar überschritten hat. Diederichsen selbst drückt sein leises Ennui mit dem Pop an sich und seinen dadurch neu fokussierten Blick auf die „Avantgarde“ so aus: "Wenn Pop nicht mehr half, konnte vielleicht die Avantgarde helfen. Die wollte zwar schon lange nicht mehr ins Leben und war längst zufrieden, in der Kunst zu wirken. Aber wenigstens ist Avantgarde-Musik als Kunst nicht so langweilig wie eine Pop-Musik, die nichts mehr versprechen kann." Aha, Avantgarde: Heißt das, in den Kolumnen werden nur abseitige Experimentaljazzer verhandelt, die noch unbekannter sind als usbekische Opernsänger? Ja, durchaus, aber Diedrich Diederichsens Texte sind auch dann ein Genuß, wenn man den Gegenstand nicht kennt, außerdem wird des Autors Interesse durch vieles geweckt – sei es durch Las Ketchup und deren Sommerhit „Asereje", Jean Baudrillard oder Larry Levan, den begnadeten DJ der New Yorker Disco „Paradise Garage"; so dass alles Pop und Avantgarde gleichzeitig sein kann und den Untertitel des Buchs, Avantgarde und Alltag (nicht etwa Monarchie …) verständlich macht. Diederichsen parliert aber nicht nur diskursiv-theoretisierend, sondern wettert saftig über die "Grein-Ohrwürmer der unerträglichen R.E.M.", lobt hemmungslos Animal Collective als "beste Band der Welt" und echauffiert sich zu Recht über den kalkulierten Einsatz von Popmusik im Film: "Moderne Spielfilme sind vampiristische Maschinen, die Songs und Musik ansaugen und für ihre Zwecke einspannen. Ein Song ist wertvolle Lebenssubstanz", der durch die unselige Verquickung mit lauwarmen Bildern "entzaubert" und "degradiert" wird. Treffender kann man die Unsitte, Indie-Greatest-Hits-Compilations über mittelmäßiges Filmmaterial zu spielen und so auf infame Weise dem gelangweilten Kinobesucher doch noch Emotionen abzuringen, nicht anprangern. Aber ich schweife ab: Diederichsens Musikzimmer, das kein Salon sein will, steckt voller Winkel, Verweise und abenteuerlicher Verbindungen; DD schafft es mühelos, in einem Text von den Fehlfarben über die Small Faces und schließlich zu Bob Dylan zu gelangen. Oder eine komplette Kolumne dem "scheußlichsten Lied der Achtziger", What a Feeling von Irene Cara zu widmen. Häufig wird man zu seiner Plattensammlung geschickt, zum Beispiel im Text anläßlich des Todes von Lizzy Mercier Descloux, Long Voodoo Ago von der LP One for the Soul sollen die Leser anhören und "Dinge denken, von denen Sie nie erfahren werden." Von einer Musik der ganz besonderen Art erzählt die Kolumne „Anthropologie des Hundes“ über, ja, singende Hunde, deren Ayler’sche Qualitäten von zwei Herren namens Oswald Wiener und Helmut Schoener entdeckt und auf Tonträger gebannt wurden.
Dass Diedrich Diederichsen aber nicht mit Gewalt nach der größtmöglichen Unbekannten in der Musikwelt sucht, bewies sein Leseabend im Frankfurter Kunstverein, als er durch das Abspielen von „Murder on the Dancefloor", dem Hit der von ihm ganz offensichtlich sehr verehrten Sophie Ellis Bextor für einige verstörte Gesichter im Kreis der ihm lauschenden Popdiskurs-Jünger sorgte.