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November 2005
Bodo Mrozek
für satt.org

Als die Welt eine Scheibe war

Daten statt Platten: Die Musik verlässt ihr Medium. Was heißt das für den Pop? Rückblick auf eine ausklingende Epoche.

Für Kurt K. aus B. war es ein schwarzer Tag. Der Lehrer einer Realschule bei Stuttgart hatte keinen Besuch erwartet. In den Morgenstunden klopften Polizisten unsanft an seine Tür und hielten dem überraschten Mann einen Durchsuchungsbefehl unter die Nase. Am Vortag hatten Beamte in Nürnberg zugeschlagen: Um 7.30 Uhr besuchten sie den Netzwerktechniker einer Softwarefirma. Einige Wochen zuvor waren Ermittler in Essen auf einem Flohmarkt im Einsatz. Acht Teams der Zollfahndung, unterstützt von einem mobilen Einsatzkommando, hatten die Aktion akribisch vorbereitet. Sie nahmen vier Polen fest.

Die Beute der Ermittler heißt in allen Fällen: Musik. Genauer: digitalisierte Musik. In Stuttgart beschlagnahmten sie zwei Computer und zwanzig CD-Alben, in Essen rund 4000 illegal kopierte CDs, in Nürnberg einen Server mit 60 000 Musiktiteln. Alle Zugriffe hatten Rechercheure aus der Musikwirtschaft vorbereitet. Die Liste der Polizeiaktionen ließe sich verlängern: die Musikindustrie meldet einen Zugriff nach dem anderen. Fast könnte man meinen, die Detektivarbeit sei wichtiger geworden als die Produktion neuer Musik.

Die drastischen Mittel spiegeln den Ernst der Lage wider. Nach Umsatzeinbrüchen – der legale Verkauf von Musik ging allein 2003 um fast zwanzig Prozent zurück – wird nun zurückgeschlagen. Die neue Strategie folgt dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche: Neben der Kriminalisierung wollen Firmen wie BMG nun als Kaufanreiz CDs ohne Cover und Booklet für knapp zehn Euro anbieten. Und es gibt mittlerweile rund hundert legale Internet-Downloaddienste weltweit. Doch womöglich steht nicht nur die Musikindustrie vor einer Revolution. Die gegenwärtige Entwicklung könnte die gesamte Popkultur grundlegend verändern.

Wann diese Epoche begann, darüber streiten die Experten. Manche datieren ihren Beginn auf jenen Tag im Juli des Jahres 1953, als ein Junge aus Tupelo, Mississippi, seine Gitarre schulterte und das Aufnahmestudio einer kommerziellen Plattenfirma in Memphis, Tennessee, betrat. Auch wenn die Musik damals Rock'n'Roll hieß, beruhte die bis dahin beispiellose Karriere von Elvis Aaron Presley nicht nur auf dessen Aura. Von Anfang an gehörten ein cleveres Marketing, gewieftes Management und umfangreiches Merchandising dazu. Die Zielgruppe war schon damals klar umrissen. Es ging um die Geldbeutel der Jugendlichen.

Die erste Generation, die sich der Popmusik ergab, waren die so genannten Halbstarken. In den USA, Europa und sogar in Teilen Asiens kleideten sich Arbeiterkinder seit Mitte der Fünfziger erstmals einheitlich und hörten dieselbe Musik – aus Röhrenradios und Musikboxen, denn Plattenspieler waren noch nicht verbreitet. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders. Die Industrie erkannte, dass sich hinter den Bedürfnissen ein ganzer Markt eröffnete. Eilig erfand man den konsumorientierten Typus des Teenagers als Leitbild für die nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Pop fungierte dabei als Integrationsmaschine. Egal ob Schallplatten, Jeans, Mopeds oder die später so wichtigen Turnschuhe: Teenager wollten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft stets nach dem letzten Schrei ausgerüstet sein.

Musik war schon immer ein Mittel für die Übergangsriten von der Kindheit zum Erwachsensein, auch im vormodernen Gesellen- und Studentenlied oder im Zupfgeigenspiel der deutschen Jugendbewegung. Die Popkultur aber hatte den Übergang vom aktiven Musizieren zur passiven Rezeption vollzogen. Jugendkultur wurde den Marktmechanismen unterworfen. Die Inhalte waren dabei mit der Verpackung quasi identisch, und die immer neuen Modernisierungsschübe des Pop folgten nicht zuletzt dem Gesetz des Wachstums.

Wenn Pop das Geschäft mit der Illusion ist, so bleiben seine Versprechen diffus, aber verheißungsvoll. Sex and Drugs and Rock'n'Roll dürfte der kleinste gemeinsame Nenner der säkularen Heilserwartungen sein, die jede Generation auf ihre Weise ersehnte: Die Halbstarken mit Alkohol, Krawall und den Verheißungen dämmeriger Kinos. Die Beatniks mit Jazz und Joints, die Hippies mit freier Liebe und bewusstseinsverändernden Substanzen.

Die jüngste Variation dieses Grundschemas waren stampfende Bässe aus dem Computer und synthetische Drogen aus dem Chemielabor. In einem letzten Aufbäumen reduzierte der Rave der Techno-Ära den Pop auf den puren Rhythmus. Heute steckt auch diese letzte große Jugendbewegung in der Selbstfindungskrise. Nach immer neuen Variationen von House über Jungle, Trance bis Drum’n’Bass sucht die elektronische Musik erschöpft den Crossover mit dem Gitarrenrock – wie in einem Schulterschluss mit den archaischen Wurzeln der Popmusik. Unterdessen hat die Generation der Halbstarken soeben das Rentenalter erreicht. Die Raver der ersten Liebesparaden sind mittlerweile selbst Eltern. Heute wird man im Westen kaum einen Menschen unter 60 finden, der nicht irgendwie auch mit Pop sozialisiert wurde.

Die Mehrheit der Popmusik-Käufer, auch dies belegen jüngere Zahlen, ist heute älter als vierzig. Das Publikum in Rockkonzerten stellen nicht mehr mehrheitlich Jugendliche sondern Familienväter, die sich mit gelockertem Hemdkragen und einem Bier in der Hand ein Stück Freiheit für den Feierabend kaufen – in Form einer Eintrittskarte für die Freiluftbühne. Die religiös kultische Verehrung des Rockstars, der sein Leben verschwendet oder sogar im Drogentod hingibt für den Freizeitler, der angepasst weiterleben darf, basiert auf dieser Arbeitsteilung.

Zur Abgrenzung gegen ältere Generationen taugt Pop da nur noch bedingt. Der mit Dylan, den Stones oder den Stooges sozialisierte Vater, der heute mit seinen Kindern ein Konzert des Teenie-Idols Pink besucht (solche Familienausflüge waren noch vor Jahrzehnten undenkbar), wird sich dort eher langweilen – er hat wildere Zeiten erlebt. Just in dieser Zeit der Wiederholung alter Muster ereilt den Pop die bislang größte Krise. Eine kleine Dose mit weißen Kopfhörerstöpseln könnte zur Büchse der Pandora für die Industrie werden. Kaum eine Erfindung dürfte die Popmusik so umwälzen wie die neue Generation von Miniplayern, etwa dem iPod. Auf kleinen Festplatten speichern diese Geräte, die manche schon als erste Ikone des 21. Jahrhunderts feiern, bis zu 10000 Songs. Die Firma MacIntosh konnte mit der Erfindung ihren Umsatz verdreifachen und verkauft mittlerweile mehr iPods als Computer. Die Musik verlässt ihr traditionelles Speichermedium.

Die Begeisterung für Popmusik ist zwar ungedämpft, doch führt sie nicht mehr notwendig in den Schallplattenladen. Die Umstellung von Vinyl auf CD warf noch Milliarden-Gewinne für die Industrie ab, weil Fans ihre Sammlungen ein zweites Mal kauften. Nun überspielen viele iPod-Nutzer ihre CDs auf die neuen Geräte: gratis und zuhause. Die Langspielplatte, klassisches Erbe aus Zeiten, als Bands wie die Beatles oder die Beach Boys ihr Vermächtnis noch in monumentale Konzeptalben packten, hat damit bald ausgedient: Der Konsument lädt nur noch das Stück herunter, das ihm wirklich gefällt. Und das ist meist die Hit-Single.

Zwar hoffen Musikanbieter wie BMG und neuerdings AOL auf das Geschäft mit legalen Downloads für die neuen Geräte, doch ob damit auch nur annähernd so viel wie mit den Scheiben zu verdienen ist, weiß bisher keiner. Rund 250000 Titel verkaufte der neue Downloaddienst der Firma Apple allein in der ersten Woche. Die Frage aber, wie viele dieser Nutzer, die sich nun für 99 Cent ihren Hit aus dem Netz saugen, früher das ganze Album gekauft und dafür 16 Euro oder mehr bezahlt hätten, bleibt unbeantwortet. Die Polizeiaktionen gegen Schwarzbrenner, die noch nicht mal die Spitze des Eisbergs treffen, machen deutlich wie wenig kontrollierbar der neue Schwarzmarkt ist.

Mit der ständigen Verfügbarkeit der Ware Musik als Gratis-Download verliert sie ihren Fetischcharakter. Der Kult um die Scheiben, wie ihn der Schriftsteller Nick Hornby in High Fidelity beschrieb, könnte bald nur noch Sammler und Nostalgiker interessieren. Wenn sich aber der Inhalt von der Verpackung löst, dann bedeutet das nicht nur Einbußen beim Musik-Verkauf. Es wird auch ein Grundsatz der Popkultur in Frage gestellt: die Warenhaftigkeit ihrer Inhalte. Der Pop in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit: Über die Konsequenzen der Umwandlung analoger Musik in digitale Zeichenketten, wie es Diedrich Diederichsen unlängst treffend formulierte, kann man bislang nur spekulieren.

Möglich wäre immerhin, dass an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die Pop- und Rockkultur vor ihrer bislang größten Veränderung steht – vielleicht sogar vor ihrem Ende. Dem auf Jugendkulturen, Wachstum und Marktwirtschaft beruhenden Popschema wird man sie dann nicht mehr ohne weiteres zuordnen können und die neuen Formen dürften neue Inhalte entwickeln: Zukunftsmusik aus dem Netz. Pop in seiner bisherigen Form könnte dann schon bald Geschichte sein: der charakteristische Soundtrack des 20. Jahrhunderts – einer ausklingenden Epoche.


(Aktualisierte Version eines zuerst im Tagesspiegel vom 5. Juli 2004 erschienenen Artikels)