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Januar 2006
Marc Degens
für satt.org


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Throbbing Gristle
Konzert am 31. Dezember 2005
in der Berliner Volksbühne

Throbbing Gristle
Throbbing Gristle

Genesis Breyer-P-Orridge
Genesis Breyer-P-Orridge

Cosey Fanni Tutti
Cosey Fanni Tutti

Chris Carter
Chris Carter

Peter „Sleazy“ Christopherson
Peter „Sleazy“ Christopherson

Throbbing Gristle
Throbbing Gristle

Genesis Breyer-P-Orridge
Genesis Breyer-P-Orridge

Cosey Fanni Tutti
Cosey Fanni Tutti

Kunst-Werke
Kunst-Werke
Fotos © Marc Degens


In der Berliner Silvesternacht nieselte es, der weiße Überzug taute auf, die Straßen verwandelten sich in graue Bänder mit Rändern aus braunem Schneematsch. Es wurde verhältnismäßig wenig geknallt. Viel seltener als in den Jahren zuvor zischte eine Rakete von einem Balkon zum gegenüberliegenden oder detonierte ein Chinaböller im U-Bahnschacht. „Der Krach des einen ist die Musik des anderen", sagte Chris Carter am Tag als der offizielle Feuerwerksverkauf begann. Er, der musikalische Kopf der Elektrolärmlegende „Throbbing Gristle", kurz: TG, muß es wissen. Das britische Quartett zählt zu den fortschrittlichsten und einflußreichsten Bands der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, wahrscheinlich sind sie nach Kraftwerk sogar die wichtigste der Dekade. Die Kultgruppe begründete die Industrial-Bewegung, der Name des Genres leitet sich vom bandeigenen Label „Industrial Records“ ab, und in der Zeit von 1976 bis 1981 schuf TG Unerhörtes. Songs und Soundcollagen, die bis heute nicht nur Vorreiter- und Vorbildfunktion für Industrial-Acts wie „Einstürzende Neubauten“ besitzen, sondern auch für große Teile der elektronischen Tanzmusik von Bedeutung sind. Dementsprechend pompös wurde der erste Liveauftritt der Gruppe in Deutschland seit fünfundzwanzig Jahren inszeniert. Die Feierlichkeiten dauerten mehrere Tage und gipfelten am Silvesterabend in der Berliner Volksbühne im einundvierzigsten Konzert der Band. Zwei Tage zuvor fand im ausverkauften Arsenal im Filmhaus am Potsdamer Platz in Anwesenheit des Quartetts die Premiere des TG-Konzertfilms „Live at the Astoria, London“ statt. Der neunzigminütige, 2004 gedrehte Film dokumentiert den ersten Auftritt der Gruppe nach dreiundzwanzigjähriger Pause, und begeisterte das anwesende Kinopublikum ebenso wie die damaligen Konzertbesucher. Die Band gab in London mehrere neue Stücke zum besten, spielte aber hauptsächlich Klassiker wie „Persuasion", „What a day“ oder „Discipline". Es sind ausdauernde Stücke, die auf kunstvolle Weise eingängige Stampf- und Schunkelrhythmen mit vielschichtigen Lärmwänden und geschrieenen Parolen oder langgezogenem Flehen verbinden. Der Sound ist undurchdringlich, hypnotisch, viel zu laut, das alte TG-Motto „Unterhaltung durch Schmerz“ paßt immer noch. Bemerkenswerterweise verzichtete die Band bei ihrem Comeback auf jeden Multimediaschnickschnack: Die Bühne war hell erleuchtet, die beiden Krachmacher Chris Carter und Peter „Sleazy“ Christopherson saßen fast regungslos hinter ihren Powerbooks, die ehemalige Porno-Aktrice Cosey Fanni Tutti glitt mit einem Bottleneck über die dreisaitige Gitarre auf ihren Knien … Dafür, daß ein TG-Konzert nicht nur ein bizarrer Ohren-, sondern auch ein Augenschmaus ist, blieb weiterhin allein Sänger Genesis Breyer-P-Orridge zuständig. Nachdem er sich vor einigen Jahren die Lippen aufspritzen und Brustimplantate einpflanzen ließ und sich in die Karikatur eines Metrosexuellen verwandelte, hat er eine Stufe der Provokation erreicht, die weniger schockiert als befremdet.

Am Silvesterabend um kurz nach neun war es dann auch in Berlin soweit. Der Vorhang der Volksbühne öffnete sich, die Fans strömten nach vorn und drängten sich um die kleine Bühne mit den vier Heroen. Die Freude war groß, der Lärm gewaltig. Genesis Breyer-P-Orridge trug eine rote Bluse, einen silbernen Metallplättchenrock und Pumps, Cosey Fanni Tutti in schwarzen Reitstiefeln stand mehrfach auf und blies in die Trompete, Carter und Christopherson konzentrierten sich auf ihre Computermonitore – doch im Vergleich mit dem Londoner Gig fehlte es dem Auftritt an Intensität. Breyer-P-Orridge, dem in London beim ersten Lied noch eine Träne die Wange herabrollte, beschränkte sich nun auf einige wenige Gesten und sein Klagen und Drohen, sein Leiden und Psalmodieren wirkte eine Spur zu routiniert. Auch die Musikauswahl war nicht so gelungen: TG spielte hauptsächlich neues Material ihres im März erscheinenden Albums „Part Two", durch den Verzicht auf die frühen Industrial-Gassenhauer fehlte dem Konzert der Spannungsbogen. Hinzu kamen kleinere technische Probleme. Bezeichnenderweise fand der Höhepunkt des Konzerts erst nach der Zugabe „Hamburger Lady“ statt, als das Publikum minutenlang trommelnd und rufend die TG-Hymne „Discipline“ forderte … Natürlich vergeblich.

Am Abend zuvor war im dritten Stock des Kunst-Werke Vereins die TG-Ausstellung „Industrial Annual Report“ eröffnet worden. Die noch bis zum 29. Januar geöffnete Ausstellung zeigt rund einhundert Exponate zum Werdegang der Gruppe: Fotos, Poster, Fanzines, Copy-Art, Anstecker, Aufkleber, Kassetten-, Platten- und CD-Cover. Der Ausstellungsraum wirkt wie ein gut sortierter Fan-Shop. Doch vom Hintergrund zur Band, deren Wurzeln zurück zur britischen Performancegruppe Coum Transmissions reichen, die mit Livekopulationen und durch die Verwendung von benutzten Tampons und allerlei Körperausscheidungen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte, erfährt man leider nichts. Entschädigt wird der Besucher dafür im Nebenraum mit den auf Großbildleinwand projizierten TG-Konzertfilmen „Heathen Earth“ aus dem Jahr 1980 und dem großartigen „Live at the Astoria, London".


Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 4. Januar 2005.