Popmusik im Museum, als Tagungsthema oder Gegenstand universitärer Untersuchungen – kann man Pop überhaupt so fassen, dem Thema gerecht werden? Hier werden drei aktuelle Bücher vorgestellt, die sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten und mit verschiedenen Herangehensweisen dem Phänomen Pop(kultur) widmen.
Jochen Bonz, Michael Büscher, Johannes Springer (Hrsg.): Popjournalismus
Im November 2003 fand in Bremen die Tagung Popjournalismus – Erscheinungsformen und Konzepte statt, veranstaltet vom Bremer Institut für Kulturforschung (bik) und dem Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud). Dieses Buch versammelt einige während dieser Tagung vorgetragene Texte, aber auch eigens für diese Publikation geschriebene Beiträge. Natürlich kann das Buch auf 160 Seiten keine umfassende Historie des Popjournalismus liefern, es geht mehr um einzelne Schlaglichter und Phänomene, die gezielt vorgestellt werden sollen. So schreibt zum Beispiel Johannes Springer (übrigens auch satt.org-Autor) über Popjournalismus als Feld der Kulturarbeit, also darüber, wie man das, was als Spaß anfängt, in ökonomische Bahnen lenkt. Das Wort "Selbstausbeutung" kommt in diesem Beitrag mehr als einmal vor …
Besagter Johannes Springer und Christian Steinbrink interviewen die Eins-Live-Ikone Klaus Fiehe (unter anderem erfährt man aus dem Text, dass Fiehe mal bei Geier Sturzflug gespielt hat); Herausgeber Jochen Bonz bittet Pinky Rose, eine der wenigen MusikjournalistInnen zum Gespräch – bei allem Respekt für das möglichst naturbelassene Interview drängt sich dennoch der Gedanke auf, dass hier winzige redaktionelle Eingriff nicht schlecht gewesen wären, zumindest im Namen der Lesbarkeit: ungefähr dreiundvierzigmal steht im Interview, dass Pinky Rose Mutter zweier Kinder ist. Aber egal, Mme Rose erzählt ja auch noch andere spannende Geschichten. Historisch interessant ist Kito Nedos Artikel über Helmut Salzinger, den ollen Rebel-Journalisten, der sich leider bereits in den späten siebziger Jahren aufs Land zurückzog und seitdem nicht mehr gesichtet wurde. Unter dem Pseudonym Jonas Überohr verfaßte er zwischen 1973 und 1975 eine Kolumne für Sounds, außerdem verdankt ihm die Literaturwelt das Buch RockPower oder Wie musikalisch ist die Revolution?
Ohne Diedrich Diederichsen wäre eine solche Publikation unvollständig, deshalb kommt er gleich zweimal vor: Felix Bayer nutzt einen Text Diederichsens über Grace Jones, um seine eigene Schreibersozialisation zu erklären; einige Seiten weiter interviewen Jochen Bonz und Alexis Waltz den großen DD.
Viel Spaß macht der Beitrag von Eric Peters, Tocotronic, die Poplinken und Ich. Peters setzt die Hamburger Schule und die beiden Leitmedien der alternativen Popkultur, Spex und Intro in Beziehung und attestiert ihnen "gemeinsames Altern". Außerdem ist Peters der bisher einzige Mensch (glaube ich), der sich zu schreiben traut, dass Tomte "grausame, bejahende Gitarren-Kitsch-Pop-Sülze" machen. Dafür vielen Dank und Hut ab. Aus diesem und vielen anderen Gründen lohnt sich die Lektüre von Popjournalismus auch für diejenigen, die sich geschworen haben, in keinem Blog der Welt jemals ihr Urteil über die neue Platte von x oder y abzusondern.
Albert Scharenberg, Ingo Bader (Hrsg.):
Der Sound der Stadt. Musikindustrie und Subkultur in Berlin
Ein Reader über Berlin als Musik(haupt)stadt war längst fällig, die beiden Herausgeber Albert Scharenberg (Dr. phil., schreibt unter anderem für die Blätter für deutsche und internationale Politik) und Ingo Bader (promoviert gerade) haben unter den Themenüberschriften 1. Global Music, Global Cities?, 2. Die Struktur der Berliner Musikwirtschaft und 3. Subkultur Artikel junger Autoren und Autorinnen zusammengetragen, die alle in irgendeiner Form mit der Berliner Musikszene und/oder Subkultur zu tun haben. Obwohl das Buch ein "hartes" Wissenschaftsbuch ist und kein populäres Sachbuch, berichten die Autoren vornehmlich aus ihren Erfahrungskontexten oder machen ihre Vorlieben zum Forschungsobjekt. So zum Beispiel Anja Schwanhäußer, die die "Stadt als Abenteuerspielplatz" erkundet, heißt, sie besucht Parties und schreibt darüber. So erinnert sie sich an einen Club, der in den frühen neunziger Jahren in der Nähe der Schönhauser Allee existierte: "( …) wo man durch einen Kanaldeckel einsteigen und dann einige Meter durch ein dickes Kanalrohr auf allen Vieren zurücklegen musste. Getanzt wurde in einem Kohlenbunker. Die Sichtweite betrug drei Zentimeter ( …)" Ausgehen als Feldforschung – Naturfilmer Sir David Attenborough hätte seine reine Freude daran!
Die Herausgeber interviewen Gudrun Gut und Thomas Fehlmann, die Berlin ziemlich abfeiern, aber ok, über Berlin wird ja im Allgemeinen sonst gern geschimpft. Tresor-Gründer Dimitri Hegemann schreibt über die Anfangszeiten seines legendären Clubs und dessen Schließung; Alexis Waltz und Aljoscha Weskott sehen Verbindungen zwischen Detroit Techno und Berliner Techno; ein Artikel widmet sich der Berliner HipHop- und Raphistorie.
Doch es dauert einige Seiten, bevor es um Pop, Musik und Underground im berlintypischen Kontext geht; zwei Drittel des Buches beschäftigen sich mit Kulturtheorie (die einleitenden Artikel von Allen J. Scott und Andrew Leyshon) und der wirtschaftlichen Seite des Kulturbetriebs.
Insgesamt auch für Bewohner des restlichen Landes interessant, zumal es ja zur Zeit so aussieht, als spiele die Musik ausschließlich in Berlin!
Rock! Jugend und Musik in Deutschland
Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig wird zur Zeit* eine Ausstellung gezeigt, die sich der Geschichte der Rockmusik in Deutschland widmet – unter besonderer Berücksichtigung von Pop und Rock in der DDR. Auch wenn hier mal wieder eine Jugendbewegung musealisiert wird (wie zum Beispiel vor einigen Jahren in Düsseldorf, "Zurück zum Beton" hieß die Ausstellung über Punk in Deutschland), kann man der Herausgeberschaft Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundeszentrale für politische Bildung (uff) an dieser Stelle großes Lob aussprechen. Zum einen, weil sowohl für die Ausstellung als auch für das vorliegende Buch reichhaltiges und zum Teil unveröffentlichtes Bildmaterial zusammengetragen wurde; zum anderen, weil im Buch Artikel von Menschen versammelt sind, die sich auskennen: Ronald Galenza beispielsweise schreibt über Punk in Deutschland, Klaus Farin über politisches Bewußtsein in der Jugendkultur und Michael Rauhut über Rock in der DDR.
Ausstellung und Buch spannen den Bogen von 1955 bis heute, bezieht also den Wirtschaftswunder-Petticoat-Rock’n’Roll mit Peter Kraus ebenso ein wie Techno und Gothic der näheren Vergangenheit beziehungsweise Gegenwart. Die Unterschiede zwischen Ost und West manifestieren sich nicht zuletzt in seltsamen Anwandlungen der DDR-Regierung, wie zum Beispiel dem Versuch, mit dem "Lipsi"-Tanz den bösen Dämon Rock’n’Roll zu bannen. Nur leider wollten die DDR-Teenies dieses Surrogat so gar nicht annehmen und rockten weiter zum Sound des Klassenfeinds. Das war in den späten fünfziger Jahren, wenige Jahrzehnte später bekamen die ostdeutschen Jugendlichen immer noch mehr vom "bösen" Westpop mit, als Honecker et al gefallen konnte. Besonders Gothic erfreut sich auch heute besonders im Osten ungebrochener Beliebtheit, wie man jedes Jahr zu Pfingsten in Leipzig (Gotik-Tage) miterleben kann. Dass Pop- und Rockmusik inklusive aller äußerlichen modischen Zeichen Ausdruck jugendlichen Distinktionsverhaltens sind, mag ein Allgemeinplatz sein, aber manchmal muß man sich eben mal wieder ein paar Bilder anschauen, um entweder ein nostalgisch-freundliches oder ein revolutionär-kämpferisches Gefühl zurückzuholen. Die Ausstellung hat dem Buch gegenüber zwar einen nicht von der Hand zu weisenden Vorteil, nämlich jede Menge Hörbeispiele, aber wer es nicht nach Leipzig oder Bonn schafft, ist mit Rock! Jugend und Musik in Deutschland sehr gut bedient. Zur Ausstellung gibt es noch einen eigens zusammengestellten Katalog, der aber den Expertentest durch satt.org- und FAZ-Autor Andreas Platthaus nicht bestand (nachzulesen unter faz.net, "Zwei Staaten im Sechsvierteltakt").
* noch bis zum 17.4.06 in Leipzig, danach zieht die Ausstellung weiter nach Bonn ins Haus der Geschichte und kann dort vom 25.5. bis 15.10.06 besichtigt werden.