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Soso, es ist offenbar an der Zeit, an eine Bewegung beziehungsweise einen Musikstil zu erinnern, die mir persönlich gar nicht so lang verjährt vorkommt: Das amerikanische Label Livewire hat mit Sleepless in Seattle. The Birth of Grunge einen Sampler zusammengestellt, der den Bogen weit spannt – bereits 1981 formierten sich die U-Men in Seattle, von den Kompilatoren als Ur-Grungeband definiert, das letzte Stück des Albums, Creepy Jackalope Eye von den Supersuckers stammt von 1994. War Grunge eine rückwärtsgewandte, ästhetisch wie musikalisch wenig reizvolle Bewegung, die auf eine einzige Stadt des amerikanischen Nordwestens konzentriert war, oder ein globales Phänomen, das den Nerv Tausender frustrierter Jugendlicher traf, wie davor nur Punk? Wie so oft stimmt beides und persönliche Erinnerungen trüben zudem den analytisch-klaren Blick zurück. Auch heute noch fällt mir sofort ein, was ich gemacht habe, als Kurt Cobain starb (die Identifikationsfrage meiner Generation) und ich wünsche mir wirklich sehr, ich könnte noch einmal zum ersten Mal Smells Like Teenspirit hören. Nach den überstylten Achtzigern, als der Look scheinbar wichtiger war als der Sound, schien es nur folgerichtig, dass auf einmal langhaarige Schmuddeltypen auftauchten, die ROCK spielten – aber wie hörte sich dieser Rock an? Schwer wie Black Sabbath, drogenverhangen, verzerrt-jaulende Gitarrensoli à la Led Zeppelin; Iggy & the Stooges und MC5 waren hörbare Vorbilder, vermischt mit Punkrock, Heavy Metal und Blues. Vorherrschende Stimmungslage war die schwere Depression, die man mit Hilfe von Alkohol und chemischen Substanzen nach draußen schreien wollte. Ein großer "Hit" dieser kaputten Zeit war Touch Me, I'm Sick von Mudhoney, ein Song, der Angst, Verzweiflung, Aggression und leck-mich-Stimmung grandios auf den Punkt brachte. Sub Pop hieß das Label, das die ersten Grungebands veröffentlichte und bis heute Kultstatus genießt. Grunge kam über die Indiegemeinde wie Gewittergrollen und holte alle ab, die sich zwischen Hardcore und Gothic nicht zurechtfanden. Das Wort "Grunge" steht für Schmutz, Abfall, ist also wie "Punk" eine von den Beteiligten selbstgewählte Erniedrigung, vorwegnehmend, was die Erwachsenen/Eltern/Lehrer/Nachbarn/Spießer sowieso von einem halten. Grunge war tendenziell häßlich, weniger offensiv-häßlich wie Punk, sondern eher verschlunzt-nachlässig, das Gegenteil von Style. Was nicht heißt, dass sich keine Ikonen fanden: das Konterfei Kurt Cobains findet sich noch heute, 12 Jahre nach seinem Tod und 15 Jahre nach Erscheinen von Nevermind auf den Schultaschen so mancher Avril-Lavigne-Lookalikes. Womit wir bei einem nicht zu unterschätzenden Punkt wären: die Romantik der Todesnähe und Kurt Cobain als Pin-up-boy der Negation schlechthin machten Grunge auch anziehend für diejenigen, die von der Musik vielleicht eher abgeschreckt wurden. Nirvana als spätere Stars der Bewegung sind auf dem Sampler Sleepless in Seattle. The Birth of Grunge ebenso wenig vertreten wie Pearl Jam, Alice in Chains oder gar Soul Asylum, die von oben zitiertem Leserbriefschreiber allesamt unter "Grunge" einsortiert wurden. Clark Humphrey, der die Linernotes des Booklets verfaßt hat, erklärt diesen Umstand mit Lizensierungsschwierigkeiten und Platzgründen – was auch immer der Grund dafür ist, die "Stars" oder besser Antistars des Grunge nicht auf die Compilation zu packen, er führt jedenfalls dazu, völlig unbekannte Bands kennenzulernen wie zum Beispiel Mr. Epp & the Calculations mit dem Song Mohawk Man von 1982, der eine interessante Minimalstudie von Prä-Prä-Grunge ist, auch die Blackouts oder Green River dürften sich hierzulande keiner allzu großen Hörerschaft erschlossen haben. Mit Mudhoney, Tad, den Screaming Trees, Coffin Break und den Melvins sind einige der wichtigen Bands versammelt, die Grunge als Stilrichtung definierten. Frauenbands wie 7 Year Bitch, Babes in Toyland oder The Gits mit Sängerin Mia Zapata waren in den frühen neunziger Jahren die Speerspitze der Riot-Grrl-Bewegung, hört man Songs wie "He's my Thing" von BiT, fällt auf, dass der Sound insgesamt viel leichtfüßiger ist als der reiner Männergrungebands, aber es scheint, als wären die Grungegirls noch viel wütender gewesen als die Typen. Und was ist das Vermächtnis von Grunge? Was entwickelte sich aus dem "Sound of Seattle"? Emo, New Metal …? Clark Humphrey bringt die "lesson from grunge" auf die Formel make your own scene, make your own noise. Muß man wohl so stehenlassen. |
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