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Februar 2006
Christina Mohr
für satt.org


Architecture in Helsinki:
In Case We Die

Cooperative/ V2/ Rough Trade 2006

Architecture in Helsinki: In Case We Die
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Clap Your Hands Say Yeah
Wichita/ Cooperative/ V2/ Rough Trade 2006

Clap Your Hands Say Yeah
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Architecture in Helsinki:
In Case We Die

Super Melody World

"Super Melody World" heißt das Studio/der Versammlungsraum der australischen Band Architecture in Helsinki. Dort haben die acht Hauptmusiker Cameron Bird, der zusätzlich für das Artwork der Platte verantwortlich zeichnet, James Cecil, Gus Franklin, Isobel Knowles, Jamie Mildren, Sam Perry, Tara Shackell, Kellie Sutherland plus ungefähr 40 Freunde das Album In Case We Die (das zweite der Band, das Debüt heißt Fingers Crossed) gebastelt, geschustert, gestrickt, gekocht, gemalt und dann doch noch mit Instrumenten eingespielt. "Instrumente" ist gleich ein gutes Stichwort, denn Instrumente gibt es ungefähr so viele wie Musiker und das wird in der Verbindung beziehungsweise Potenzierung doch schnell verwirrend. Deshalb ist im Booklet ein Schema abgebildet, das anzeigt, welche Instrumente bei welchem Song zum Einsatz kommen. Da sind unter anderem eine Sitar, eine Tuba, ein Cello, jede Menge Synthies und tatsächlich solch profane Dinge wie eine "Electric Guitar".

Architecture in Helsinki sind ein durchgeknalltes WG-Kollektiv wie The Arcade Fire und der Clan um Broken Social Scene; ein Indiz dafür, dass das gemeinsame Musizieren ein zur Zeit globales Phänomen ist, denn AiH kommen ja wie bereits erwähnt aus Australien (Melbourne) und nicht aus Kanada wie die anderen genannten Bands. AiH sind verspielt und versponnen, werden dabei aber nicht so pathetisch wie Broken Social Scene. AiH wechseln innerhalb eines Songs mehrfach Tempo, Stimmung und Genre, die Ideen schubsen sich gegenseitig aus dem Stück, aber das Wunder gelingt: die Platte nervt nicht, sondern macht einen Heidenspaß und verdreht einem den Kopf. Verwirrend ist schon mal, daß die eine Sängerin klingt wie Kevin Blechdom, vor allem bei den Songs Wishbone und The Cemetery. Dann sagen die Musiker selbst, daß sie sehr von Grunge und ein bißchen von Folk beeinflußt sind. Nun, den Grungeeinfluß hört man kaum, aber vielleicht tragen sie ja Karohemden auf der Bühne. Folk paßt schon eher, wenn man bei Folk in erster Linie den Kollektivgedanken im Kopf hat und eine gewisse Grenzenlosigkeit erzielen will. Aber wer oder was sie auch beeinflußt hat, Fakt ist, daß schon viele bekannte Bands auf sie aufmerksam geworden sind und AiH als Support für ihre Konzerte eingeladen haben. Belle & Sebastian, David Byrne, die Go Betweens, Yo La Tengo … just to name a few. So viel Anerkennung macht selbstbewußt, aber nicht eingebildet: schon der Albumtitel verrät eine Haltung, die das Unmögliche als Ausgangspunkt nimmt. Stell‘ dir vor, die Erde wäre rund. Nehmen wir an, wir müßten sterben. Pure Vernunft darf niemals siegen.

Ganz besonders bezaubernd und mitreißend ist Song Nummer sechs, Do the Whirlwind, der mit einem lockeren Synthiegroove beginnt, lässig fangen die Frauen an zu singen und es hört sich an wie ein tolles, noch unentdecktes Stück vom Tom Tom Club. Dann setzen Bläser ein und tragen die Melodie weiter – ganz groß.

Aber auch sonst schaffen es die australischen (oder finnischen) Architekten ziemlich locker, viele Fäden zu verknüpfen und zum Beispiel Devo mit The Knack und den Bläsern von Dexy's Midnight Runners zu vermengen. Obwohl es mir ein wenig gemein und engstirnig vorkommt, wieder alles mit allem zu vergleichen und zu behaupten, dass man so manche Elemente schon mal gehört hat – ja, aber anders und von anderen Leuten. Das hier sind Architecture in Helsinki. Have Fun.

Clap Your Hands Say Yeah

CYHSY auf Tour:
20.2.	München, Ampere

Clap Your Hands Say Yeah sind Labelmates von Architecture in Helsinki, kommen aber aus den USA (Philadelphia und New York City). Die Band ist sowas wie ein feuchter DiY-Traum: mehr als 25.000 Alben haben die Musiker eigenhändig eingetütet und verschickt, weil sie weder Label noch Vertrieb hatten. Über ein paar MP3 auf der Bandwebsite entwickelte sich schneeballsystemartig eine gewaltige Nachfrage, ein Internetphänomen oder –märchen, das bisher nur die Arctic Monkeys mit ihnen teilen. In Europa sind sie bei Wichita gelandet, im Vertrieb von Rough Trade, jetzt kann also nichts mehr schiefgehen. Wird es auch nicht, denn diese Platte ist eine der ganz großen Ausnahmen, nicht nur wegen der phantastischen Bandgeschichte, sondern vor allem musikalisch. Sänger Alex Ounsworth "leidet" zwar darunter, daß man ihn allenthalben mit Talking-Heads-Sänger David Byrne vergleicht, aber – er hört sich streckenweise wirklich so an wie der junge Mr. Byrne. Exaltiert, überkandidelt, zuweilen hysterisch, immer ein bißchen Psycho Killer. Man kann bei CYHSY auch die Referenzkiste aufmachen, genau wie bei Architecture in Helsinki, aber dadurch verdirbt man sich leicht selbst den Genuß an Songs wie The Skin of my Yellow Country Teeth oder Over and Over Again (mit den Einstiegszeilen "I heard it from a friend / The Revolution never happened / Sigh / A little die / No more a child / Goodbye" – kann man Erwachsenwerden besser auf den Punkt bringen?), eigentlich an allen Stücken der Platte. Modest Mouse, The Arcade Fire, Talking Heads sind die Bands, die am häufigsten ins Feld geführt werden, um den Sound von CYHSY zu beschreiben. Die passen auch als Vergleich, aber wie so oft ist es die Mischung, die es macht. Perlende Gitarrenläufe, die nicht nur Achtziger-Wave-Fans (remember The Chills!) ein Lächeln (oder eine Träne) ins Gesicht zaubern, himmelwärtsstrebende Synthies und ja, eben die Byrne-hafte Stimme von Alex Ounsworth machen diese Platte zu einem Glücksgriff, einem Geschenk.

Außerdem wissen Ounsworth, Lee Sargent, Robbie Guertin, Tyler Sargent und Sean Greenhalgh genau, wann Schluß ist: hört Euch den letzten Song Upon This Tidal Wave of Young Blood bis zu Ende an, und Ihr wißt, was ich meine.