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Februar 2006
Robert Mießner
für satt.org


Various Artists:
Creative Outlaws. US Underground 1962 - 1970

Trikont 2006

Various Artists: Creative Outlaws. US Underground 1962 - 1970
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Creative Outlaws
US Underground 1962 - 1970

American Rebel Songs


Wes Wilson, Are We Next? Be Aware. 1965
Wes Wilson:
Are We Next?
Be Aware.
1965
1962, Kuba-Krise: Die Furcht vor dem Dritten Weltkrieg, der der letzte sein könnte, schlägt in akute Angst um.
1970: In Chile gewinnt Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen. Zwischen Schrecken und Hoffnung liegen acht stürmische und auch gewalttätige Jahre, in denen sich das Gesicht Amerikas, und mit ihm das der Popkultur, sprunghaft ändern wird. In Mississippi und Alabama setzt der Ku-Klux-Klan auf Lynchjustiz. Hunderttausende demonstrieren in Washington gegen die alltägliche Rassendiskriminierung. Im November 1963 wird John F. Kennedy, keinesfalls die nachträglich verklärte Lichtgestalt, aber Projektionsfigur gesellschaftlicher Modernisierung, in Dallas erschossen. Knapp ein Jahr später führt sein Nachfolger Lyndon B. Johnson die USA offiziell in den Vietnam-Krieg. Der amerikanische Traum wird zum Alptraum. In Memphis fällt der schwarze Bürgerrechtler Martin L. King einem weißen Attentäter zum Opfer. Unruhen und Krawalle regieren die Nachrichten. Norman Mailer über die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre dieser Jahre: “Das Land lebte in einer mühsam, ja teilweise nur mit wilder Verbissenheit beherrschten Schizophrenie, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmert hatte und aus der es nun vielleicht keinen Weg mehr zurück gab.“

Offizielle Obszönität wird mit inoffizieller Exzentrik und Radikalität beantwortet. Bereits Anfang der sechziger Jahre übten Künstler und Intellektuelle in den Hinterhöfen und Kellerclubs New Yorks die Abweichung vom American Way Of Life. Spontaneität und Kreativität anstelle einer Ordnungsgesellschaft, die sich auf das Diktat der Börse stützt und pathologischen Antikommunismus gebiert. Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs leisteten die Vorarbeit für das, was Eric Hobsbawm die Kulturrevolution des Jahrzehnts nennen wird. Ein Umbruch, der auch seinen musikalischen Ausdruck finden sollte. Ihm hat das Münchner Label Trikont, seit über 30 Jahren selber unermüdlicher Dokumentarist von Gegenkultur, eine neue CD gewidmet. Creative Outlaws versammelt Garage-Rock, frühen Punk, Blues, Songwriter und erweitertes Bewusstsein in friedlicher Koexistenz. Auf Bob Dylan und Frank Zappa, The Doors und The Velvet Underground verzichtend, erhalten die Stimmen hinter und neben den großen Namen ihr Recht. MC 5, von denen die rhetorische Frage stammt, ob der Hörer Teil der Lösung oder Teil des Problems sein wolle. The Fugs, die auf der Bühne ein Schwein zum US-Präsidenten ausriefen. Country Joe & The Fish, deren Namen auf Stalin und Mao Tse Tung verwies – wenige Jahre nach McCarthy eine Provokation erster Güte.


Moondog, Copyright Bettmann / Corbis
Moondog
© Bettmann / Corbis

Hinter den plakativen Gesten stecken Brisanz und Substanz. Mississippi Goddam, Nina Simones Absage an das Südstaaten-Amerika brennender Kreuze und Menschen, ist vier Minuten geballte Wut und Ekel. Captain Beefhearts Dachau Blues ein pazifistisches Manifest im militanten Klanggewand. Lothar & The Hand Peoples’ Machines greift Industrial voraus. The Stooges’ 1969 verweist auf die dunkle Kehrseite des oft beschworenen Summer Of Love. Dass die sechziger Jahre keineswegs nur aus Psychedelic und Großfestivals bestanden, macht ein anderer großer Grenzgänger deutlich: Moondog, zuhause in Klassik, Jazz und Rock. Der in selbstgefertigter Wikingertracht an der Kreuzung von New Yorks 6th Avenue / 54th Street stand, auf Instrumenten der Marke Eigenbau spielte, vorbeikommende Musiker zu Sessions einlud und seine Gedichte verkaufte. Mit Erfolg übrigens – Leonard Bernstein wie Benny Goodman zählten zu seinen Fans. Und Charlie Parker, der dem frühzeitig Erblindeten versprach, lebenslang für ihn zu kochen, wenn der ihm nur das Notenschreiben beibringen würde. Auf Creative Outlaws ist er mit On Broadway zu hören. Pulsierender Jazz, der den Rhythmus des Molochs Großstadt einfängt. Laut Moondog prominent unterstützt von Charlie Parker, Charles Mingus, Max Roach und Gerry Mulligan – eine Entdeckung, die gefeiert werden sollte.

Was bleibt von denen, die nicht vernünftig sein wollten? Ob direkt oder indirekt artikuliert, die Musik auf Creative Outlaws ist politisch. Von professionellen Aktivisten beargwöhnt und belächelt, hatten Jimi Hendrix und Pearls Before Swine, Chamber Brothers und Canned Heat ihren Anteil am Kampf gegen den Vietnamkrieg und für das andere Amerika. Rock und Pop, stets mehr als bloße Unterhaltung, hatten bewiesen, dass Musik intervenieren kann. Ohne diese Pioniere keine Undergroundpresse, keine Konzertflyer. Und übrigens auch kein Punk. Dessen Abgrenzung von der Hippie-Kultur ist sprichwörtlich. Sinn ergab sie aber nur, wo sie sich auf das zum Ritual Erstarrte der sechziger Jahre bezog. Die Geschichtsbewussteren der Generation 77 und später konnten schon zwischen Rebellion und Arriviertsein unterscheiden. Sonic Youth haben Moondog gecovert. Nick Cave konnte Tim Rose, den Autor von Hey Joe und Morning Dew, zu seinen letzten Aufnahmen verhelfen. Dank Current 93 ist Tiny Tim, eigenwilliger Interpret alter Tin-Pan-Alley-Schlager, kein völlig Unbekannter mehr. Die kreativen Außenseiter der Zukunft müssen nicht bei Null anfangen. Beanspruchen dürfen sie es natürlich schon.