Catania liegt zu Füßen des Ätna. Die sizilianische Metropole verdankt dem schlafenden Berg ihre Atmosphäre aus Gefahr und Gelassenheit. Die Häuser der Stadt sind aus der erkalteten Lava des Vulkans gebaut. Der Alltag ist chaotisch. Die ihn meistern müssen, geben sich charmant. Dass Hugo Race, Australier irisch-nordenglischer Abstammung und Bluespionier, seine Heimat dort gefunden hat, wo "Offiziell" "Achtung, Falle!" bedeutet, kann kein Zufall sein. Seit fast 25 Jahren kennt der fahrende Sänger und Multiinstrumentalist vor allem ein Prinzip – das Prinzip Überraschung. Mit Plays With Marionettes (1982 - 1983) und The Wreckery (1985 - 1988) hat der Mann aus Melbourne bewiesen, dass Post-Punk Seele und Blues haben kann. Als sich Mitte der achtziger Jahre Nick Cave & The Bad Seeds in Berlin daranmachen, einen formelhaft gewordenen Underground mit widerspenstiger Tradition zu infizieren, finden sie in Race einen kongenialen Unterstützer. Und er mit Ralf Droge, Alexander Hacke, Mick Harvey, Rainer Lingk, Chris Hughes und John Molineux die ersten Mitstreiter für Hugo Race & True Spirit. Weniger eine Band als eine Plattform, befreit das weitverzweigte Kollektiv seit 1988 den Blues aus den Händen seiner Gralshüter und Nachlassverwalter. Lässt ihn seine Geschichten in der Gegenwart erzählen.
Catania liegt nicht nur unter dem Vulkan. Sondern auch auf annähernd dem selben Breitengrad wie Bagdad und Kabul. Wegmarken der Neuen Weltordnung, die mit humanitären Bombardements, Besatzung, Militärgefängnissen, Hochsicherheitszonen und Straßensperren einhergeht. Und die einen Großteil des Materials für das neue Album "Taoist Priests" liefert. In einer gefährlichen wie gefährdeten Welt zu leben, gehörte schon immer zu den Motiven von Hugo Race & True Spirit. Aber nie ist es so deutlich, nie mit soviel Wut und Dringlichkeit umgesetzt worden wie hier: "We are naked we are raw / We are naked we are war." Paradoxerweise klang es auch selten zugänglicher. Lange Jahre mit Blues und Loops, mit Steel-Guitar und Sequenzern experimentierend, können sich Hugo Race & True Spirit mit "Taoist Priests" in eine Reihe mit dem John Lee Hooker von "More Real Folk Blues" und dem Scott Walker von "Tilt" stellen. Race, Hughes, Nick Boddington, Robin Casinader, Bryan Colechin, Brett Poliness, Michelangelo Russo und ihren italienischen Kollegen, unter ihnen Marta Collica von Sepiatone, ist eine Platte gelungen, die von Songs und Sounds gleichermaßen lebt. Die realistisch ist und dabei Hoffnung vermittelt. Chris Eckman – The Walkabouts’ "Acetylene" ist ähnlich inspiriert wie "Taoist Priests" – über seine Labelfreunde: "Hugo Race & True Spirit sind gleichermaßen passionierte Bluesmusiker und verwegene Klangforscher. Bei allen möglichen Vergleichen eine rare Kombination. Wenn ihr nicht bereits zuhört, wird es jetzt höchste Zeit." satt.org hat zugehört und Hugo Race, trotz seiner Themen die Freundlichkeit in Person und bekennender Verehrer von Howlin’ Wolf wie Gudrun Guts Ocean Club, in Berlin getroffen.
Hugo, ist "Taoist Priests" ein politisches Album?
Ja. Und mehr als das, es ist ein Album über Dinge, die in den letzten Jahren in meinem Leben, im Leben von Menschen, die mir nahe stehen, geschehen sind. Der Umstand, dass Weltpolitik mittlerweile Quelle täglicher Diskussionen ist. Unser Alltag ist von Politik nicht mehr zu trennen. Dabei hatte ich anfangs gar nicht vor, eine politische Platte aufzunehmen. Als ich mit der Arbeit begonnen habe, tat ich das, wie ich es eigentlich immer tue. Ich habe Texte geschrieben, habe versucht, Realität einzufangen. Aber je länger ich an "Taoist Priests" gearbeitet habe, um so mehr wurde mir klar, dass da in gewisser Weise ein politisches Album entsteht. Eine Platte darüber, wie wir beeinflusst, wie wir geschädigt werden.
Sicherlich ist es keine Sammlung herkömmlicher Protestsongs. Andererseits finden sich Stücke wie "On The Bright Side" oder "Beyond Babylon", die deutlich den Krieg im Irak thematisieren.
"Taoist Priests" enthält zwei Arten von Songs. Es gibt die, welche ganz klar meinen, was sie sagen. Die beiden, die Du genannt hast, gehören dazu. Andere sind ebenfalls politisch, allerdings auf einer mehr abstrakten Ebene. Songs wie "Walker", "Into The Void" und "Ready To Go", in denen es zwischen den Zeilen darum geht, wie uns die Zeit, in der wir jetzt leben, prägt.
Vielen Hörern wird zuerst der Titel eures neuen Albums auffallen. Ist Taoismus für dich persönlich als Philosophie von Bedeutung? In ihrer historischen Überlieferung beinhaltet die alte chinesische Denkschule eine pazifistische Utopie. Liegt darin eine Antwort auf eine Welt, die sich an Krieg und Terror gewöhnt hat?
Taoismus ist in seinem Wesen tatsächlich eine pazifistische Philosophie, aber zur selben Zeit keine Absage an Kampf und Widerstand. Neben vielen anderen Dingen ist mir das schon wichtig. Tao heißt für mich zuallererst Balance, oder die menschliche Möglichkeit, diese zu erreichen. Tao erkennt an, dass wir in einer Welt von Dualität, von Widersprüchen leben. Und handelt davon, wie wir mit ihnen umgehen. Ein altes und einfaches Konzept. Und es hat Sprengkraft. Eine der ersten Ideen für das Cover war übrigens, das bekannte, schwarz-weiße Tao-Symbol mit einem Zünder zu versehen, es damit in eine Bombe zu verwandeln. Viele Leute sagten uns, das würde negative Assoziationen auslösen, so dass wir darauf verzichtet haben. Aber ich denke, der Entwurf illustriert meinen Gedanken. Ein globales Chaos, das zur Explosion führen kann.
Zwei Jahre hat es gebraucht, die Songs für das neue Album zu schreiben. Und dann nur zwei Monate, sie einzuspielen. Ist das die übliche Arbeitsweise von Hugo Race & True Spirit?
Im Gegenteil. Normalerweise erstrecken sich unsere Aufnahmesessions über einen längeren Zeitraum. "Ambuscado", das Vorgängeralbum, enthält beispielsweise Material, das über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg gesammelt wurde. Diesmal wollte ich an frühere Arbeiten wie "Valley Of Light" und "Second Revelator" anknüpfen. Ich wollte mir wie damals Zeit nehmen, bis ich von den Songs hinreichend überzeugt war, um sie auch aufzunehmen. Unsere späteren Platten, "Chemical Wedding", "Last Frontier" und "The Goldstreet Sessions" sind hingegen alle erst im Studio selbst entstanden. Oft habe ich nur eine minimale Idee eines Songs. Wenn ich mit der dann ins Studio gehe, kann es sich sechs Monate hinziehen, bis daraus ein fertiges Stück wird. Reizvoll, aber es war Zeit, unsere Methode zu ändern. Hinzu kam und kommt, dass ich mir jedes Mal klarmache: Ich habe auf der fertigen Platte dann mehr oder weniger eine Stunde Zeit. In diesen sechzig Minuten muss ich die Freiheit nutzen, sagen zu können, was mir wichtig ist.
Die Aufnahmen eurer früheren Werke müssen geradezu abenteuerlich gewesen sein. "Polestar" von "Last Frontier" soll zuerst in einer alten toskanischen Kapelle eingespielt worden sein. Die Bänder wurden dann nach Australien und in die USA geschickt, bevor der Song dann in Deutschland seinen endgültigen Schliff bekam.
Ja, zweimal hatten wir uns daran versucht und nie war ich ganz zufrieden damit. "Polestar" war mir so wichtig, dass wir noch eine dritte Version angegangen sind – die hat es dann auch auf die Platte geschafft. Das alles geschah zu einer Zeit, in der für mich das wichtigste Element während der Arbeit eine möglichst starke Atmosphäre war, die dann in der Musik ihren Ausdruck finden konnte. Und so ist ein Großteil von "Last Frontier" tatsächlich an den seltsamsten Orten aufgenommen worden. "Taoist Priests" ist bewusst wesentlich einfacher gehalten.
Die Stücke sind weniger experimentell, kommen der klassischen Vorstellung von Songs näher.
Ja, wir haben diesmal absichtlich versucht, in jeweils drei Minuten soviel wie nur möglich zu sagen. Es ist ein Album, auf dem wirklich jeder etwas nach seinem Geschmack finden kann. "The Goldstreet Sessions" hatte dagegen lange, improvisierte Passagen, die sich über Minuten und Minuten erstreckten. Und dafür dann weniger Songs.
Lass uns einen Blick zurück werfen. Das erste Stück Rock ’n’ Roll, das Du gehört hast, war "Rebel Walk" von Duane Eddie und Lee Hazelwood. Zufall oder nicht? Und welches war die erste Platte, die Du dir selber gekauft hast?
Das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. An die Umstände kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich muss um die fünf Jahre alt gewesen sein. Im Haus meiner irischen Großmutter, in den Hügeln bei Melbourne, wo ich oft in den Sommerferien war, fand ich heraus, dass sie einen uralten Plattenspieler besaß. Von einem meiner Cousins, denke ich. Ja, und die einzige Platte, die sie hatte, war "Rebel Walk". Ich habe sie mir unzählige Male angehört, muss also schon beeindruckt gewesen sein. Die erste Platte, die ich mir dann selber gekauft habe, könnte David Bowies "Aladdin Sane" gewesen sein. So sicher bin ich mir da aber nicht mehr.
Und dein letzter Einkauf?
Eine Compilation früher Aufnahmen von Gil Scott-Heron. Ich bin ein großer Fan von ihm und kannte doch einige der Stücke noch nicht. Da konnte ich nicht widerstehen. Moment, da fällt mir ein, die letzte Platte habe ich vor ein paar Tagen hier um die Ecke im Mauerpark gekauft: "Cluster & Eno", großartige elektronische Musik aus den siebziger Jahren.
Was interessiert dich an aktuellerer Musik? Ich könnte mir vorstellen, dass dir Gallon Drunk und The Flaming Stars gefallen.
Die mag ich beide wirklich. In letzter Zeit habe ich viel von The Books gehört, einer Band aus New York. Dann noch The Flaming Lips und Jon Spencer. Ganz wichtig sind mir die Empfehlungen von den Musikern, mit denen ich arbeite. 2005 habe ich zum Beispiel John Parish auf "Once Upon A Little Time" begleitet. Vorher waren wir mit "Songs With Other Strangers" unterwegs. Aus solchen Begegnungen schöpfe ich viele Anregungen, sowohl für meine eigene Arbeit als auch für das tägliche Hören. Ich versuche prinzipiell, Ohren und Augen offenzuhalten, damit Musik eine Überraschung bleibt.
Wie arbeitet es sich mit Robert Forster und Nick Cave?
Fantastisch. Beide sind Ausnahmekünstler. Mit Leuten dieses Kalibers im Studio zu arbeiten, verschafft dir eine Ahnung davon, woher ihre Songs kommen. Einen Beitrag zu ihrer Musik leisten zu können, macht einfach froh. Nick kenne ich nun schon sehr lange und bin immer wieder überrascht, wie er sich verändert und genauso relevant bleibt wie vor zwanzig Jahren. Das Drehbuch zu John Hillcoats "The Proposition" ist von ihm. Kraftvoll und schonungslos, ist das einer der besten Filme, die jemals über Australien gedreht worden sind. Andere Filmemacher hätten diese Courage nicht gehabt.
Um ein überstrapaziertes Etikett zu gebrauchen: Deine frühen Bands, Plays With Marionettes und The Wreckery gelten als Post-Punk, waren aber schon deutlich vom Blues inspiriert. Siehst Du eine Verbindung zwischen Blues und Punk? Die Vitalität, den Geist der Rebellion?
Auf jeden Fall. Beide waren auf ihre Art Protestmusik, waren politische Reaktionen auf kulturellen Konservatismus und Staatskontrolle. Ob du in den siebziger Jahren in der Vorstadt von Bradford zur Gitarre greifst oder in den zwanziger Jahren als Schwarzer dein Dorf in den Südstaaten verlässt, um in Chicago für einen Hungerlohn Autos zusammenzuschrauben – was dabei herauskommt, ist Musik, die über Unterhaltung, über Pop hinausgeht. Mit Easy Listening hat das schon gar nichts zu tun. In den Jahren von Post-Punk war ich beispielsweise schwer beeindruckt von The Pop Group, später von Mark Stewart and the Maffia. Ihre dezidiert politischen Texte und die chaotische Energie ihrer Musik haben mir immer wieder die Sprache verschlagen. Hinzu kam ihr Verständnis von Jazz und Dub, das mich sie lieben machte. Auf ähnliche Art und Weise versuche ich, mit Blues umzugehen. Ihn als Plattform zu benutzen. The Wreckery würde ich im nachhinein eher als Rhythm & Blues - Band betrachten, im Sinne der Butterfield Blues Band, des großen elektrischen Chicago-Sounds der sechziger Jahre. Oder von Canned Heat und The Yardbirds. Wirklich klassischer Blues ist ja eher akustisch und minimalistisch, Charlie Patton beispielsweise.
Deine Version von Blues ist nicht unbedingt die eines Traditionalisten. Ähnlich der Captain Beefhearts. Auf "Valley Of Light" habt ihr sein "Clear Spot" gecovert.
Captain Beefheart ist mir sehr wichtig. Er ist schlicht und einfach einer der Giganten in der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es stimmt, ich finde es eher langweilig, im Jahr 2006 Blues traditionalistisch zu spielen. Das gilt auch für 1996 oder 1976. Einfach eine bestimmte Stilistik, eine Form zu wiederholen, macht keinen Sinn. Ich finde es interessanter, sich einen Stil anzueignen und daraus dann eine individuelle, unverwechselbare Variante zu entwickeln. Unsere beste Blues-Platte ist wohl "Ambuscado" (lacht).
Vielleicht auch euer experimentellstes Album …
…oder das vielseitigste. Unser Blues für das 21. Jahrhundert.
Was war eigentlich 1988 die Idee, die dann zu Hugo Race & True Spirit führen sollte?
Die anfängliche Idee war, keine Rockband nach der landläufigen Vorstellung zu gründen. Probleme zwischen einzelnen Musikern von The Wreckery verhinderten, dass wir unser Bestes geben konnten und machten es unmöglich, außerhalb Australiens aufzutreten. Ich wollte danach eine Band haben, der man sich anschließen konnte, die man aber auch jederzeit wieder verlassen konnte. True Spirit zu gründen war eine Art von Befreiung. Und mittlerweile sind wir eine Welt für sich. Fast zwanzig Jahre mit all den fantastischen Musikern, die auf den Platten und den Konzerten gearbeitet, ihre unterschiedlichsten Einflüsse nutzbar gemacht haben. Die True Spirit-Musiker leben in Australien, in den USA, in Deutschland und Italien. Es war bis jetzt nicht immer möglich, mit allen auf Tour zu gehen. Diesmal klappt es endlich. Ich freue mich schon sehr auf die Konzerte, denn sie sollten dem, wie wir auf "Taoist Priests" klingen, sehr nahe kommen.
Du scheinst eine besondere Neigung zu Italien zu haben. In den neunziger Jahren hast Du in Bologna gelebt. Seit längerem bist Du auf Sizilien, in Catania zu Hause.
Catania hat eine vulkanische Energie und Aura. Der Lebensstil ist chaotisch, die Stadt steht ständig unter Druck. Und das Wetter erinnert an Melbourne, so dass ich mich da nicht großartig umzustellen brauchte. Dann habe ich in den letzten Jahren oft mit italienischen Musikern gearbeitet, die mir alle außerordentlich viel bedeuten: Sepiatone, The Merola Matrix, Cesare Basile. Viele von ihnen spielen auch auf "Taoist Priests" mit.
Ihr ward eine der ersten "Independent"-Bands, die nach 1989 Osteuropa bereist haben. Letztes Jahr habt ihr dann das erste Mal in Belgrad gespielt. Was waren deine Eindrücke?
Interessante Tage, auf jeden Fall. Aber meine Gefühle waren etwas gemischt. Ein sehr gutes und aktives Publikum. Füßestampfend, klatschend, Fragen stellend. Das Konzert hat großen Spaß gemacht, voller Gefühl und Energie. Die Stadt selber kam mir eher kalt vor. Spuren der Nato-Bombardements sieht man mittlerweile wenig, aber die Leute wirkten doch eher distanziert. Obwohl, ich hatte eine spannende Taxifahrt. Als der Fahrer erfuhr, dass ich Musiker bin, hat er mitten in der Nacht den Wagen angehalten und mir ausgiebig Musik vorgespielt. Hauptsächlich Guslaren, die großen serbischen Folksänger. Dann habe ich einen interessanten Medienkünstler getroffen, Zoran Naskovski, der diese traditionelle Folkkultur dann mit geschichtlichen Motiven aus den USA verbindet. Und Belgrad hat mich irgendwie an das West-Berlin der späten achtziger Jahre, vor dem Fall der Mauer erinnert. Dieselben Gestalten frühmorgens um halb fünf in irgendwelchen halblegalen Bars, dieselbe klaustrophobische Atmosphäre.
Womit Du die Schlussfrage vorweg nimmst. Du hast Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Berlin gelebt. Kennst den West- wie den Ostteil. Wie erlebst Du die Stadt heute?
Für Leute wie mich ist Berlin immer noch ein idealer Ort. Übrigens ist das Leben hier mittlerweile billiger als in Italien. Was mir auffällt: Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg Schöneberg und Tiergarten kommen mir wie einzelne Städte für sich vor. Der Hauptstadt selber fehlt ein Zentrum.
Hugo, herzlichen Dank für das Gespräch.