Johnny Cash und Raymond Chandler sind einander nie begegnet. Dabei hätten sie reichlich Gesprächsstoff gehabt. Beiden waren die realen und metaphorischen Hinterhöfe Amerikas bestens vertraut. Verhältnisse, die einen Menschen genauso töten können wie eine Axt. Oder ein Revolver. Freiheit, verstanden als soziale Gleichgültigkeit. Familiendramen, die jäh in Gewalt umschlagen. Religion als Fluchtpunkt. Ein halbes Jahrhundert, nachdem Cash diese Erfahrungen in den zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden von Folsom Prison Blues gebündelt hat, kommt Johnny Dowd nach Deutschland. Er könnte mit Leichtigkeit unser imaginäres Treffen des Man In Black mit dem Klassiker des Crime Noir als dritter Mann vervollständigen. Es sind Amerikas Nachtgestalten, die seine Songs bevölkern. Ohne zu romantisieren, porträtiert Dowd Mörder und Psychopaten. Schuldige ohne Sühne, Getretene, denen ihrerseits nur das Treten bleibt. Die Geschichten aus der Zwischen- und Unterwelt vertont er mit Versatzstücken aus archaischem Blues, Country, Jazz und Rock.
Johnny Dowd at pawnshop Foto © Kat Dalton
|
Geboren am Ostersonntag 1948 in Texas, erlebt Dowd eine Kindheit zwischen Norm und Abweichung. Im Haus der Eltern werden Jimmy Dorsey und Glenn Miller gespielt. Ein Bild zeigt den Vater gemeinsam mit Frank Sinatra. Dowd senior arbeitet in den fünfziger Jahren nach einem von mehreren Umzügen in Amerikas erster Shopping Mall, J. C. Penney in Memphis. Überwirft sich mit seinem Chef und kündigt. Lieber widmen sich die Eltern der musikalischen Erziehung ihres Kindes. Dowd junior bekommt zu Weihnachten 1956 den ersten Plattenspieler geschenkt. James Browns Live At The Apollo wird seine Lieblingsplatte. Bis heute. Tanzen lernt er von der Mutter. Als die erste Bob Dylan-LP erscheint, wird die Ehe der Eltern geschieden. Kurz darauf trennt sich Dowd von seiner Plattensammlung: “Ein vergeblicher Versuch, den Einfluss von Rock ’n’ Roll auf meine Einbildungskraft zu brechen.“
Für Eindrücke anderer Art wird 1969 die Army sorgen. Er hat Glück, großes Glück. Und landet nicht in Vietnam, sondern im Westberlin der Studentenrevolte. Dowd erinnert sich: “Ich wurde Teil der Exerziertruppe, die die amerikanische Flagge trug. Es gab eine Parade, an der jährlich alle vier Besatzungsmächte teilnahmen. Während wir die Straße entlang marschierten, ließen die Studenten Rockmusik aus den Fenstern hämmern. Es war so laut, dass der Marsch sich im Chaos auflöste. Die Studenten rannten in die Formation rein und raus. Habe ich erwähnt, dass ein guter Teil der Soldaten mit afghanischem Haschisch zugedröhnt war?“ Soldat Dowd verbringt seine Freizeit im Kino und auf Konzerten. Sieht sich Woodstock an, erlebt die Rolling Stones mit Buddy Guy im Vorprogramm und, kurz vor dessem frühen Tod, Jimmy Hendrix. Er schärft seine Beobachtungsgabe: “Ich erinnere mich, wie ich ein Weihnachten damit verbrachte, das Spandauer Gefängnis zu bewachen, in dem Rudolf Hess saß. Meine ganze Erinnerung an Berlin hat diese Art surrealen Aspekt.“
In die USA zurückgekehrt, lernt Dowd seine Ehefrau, die Fotografin Kat Dalton kennen. Das einzige Ereignis, das er aus den siebziger Jahren für erinnernswert hält. Ein Gentleman. Und Unternehmer: Gemeinsam mit einem Freund gründet er 1981, mittlerweile in Ithaca, New York lebend, eine Umzugsfirma. Das Geschäft wird über ein Jahrzehnt lang seinen Alltag bestimmen, die Musik bleibt dem Feierabend vorbehalten. Bis sich Dowd allmählich den Entschluss abringt, nicht nur länger fremder Menschen Hausrat zu verstauen und durch die Stadt zu karren. Stattdessen beginnt er, den amerikanischen Traum selbst zu entrümpeln. Freunde wie Kim Sherwood-Caso, ihrerseits Sängerin und Inhaberin eines Friseursalons, und Drummer Brian Wilson (kein Künstlername!) legen mit Hand an. Musikpresse wie Publikum sind gänzlich unvorbereitet, als Dowd 1998, im Alter von fünfzig Jahren, sein Debütalbum vorlegt. Wrong Side Of Memphis nennt er es. Ein Titel, der getrost wörtlich genommen werden kann. Wie auch die der Nachfolgealben: Pictures From Life’s Other Side, Cemetery Shoes und jetzt Cruel Words. Musik, die Journalisten regelmäßig tief in die Metaphernkiste greifen lässt. Die New York Times überwältigt: “Johnny Dowd ist Willie Nelson, verwandelt in Mr. Hyde.“ Der Londoner Guardian nach einem Konzert: “Ihn auf der Bühne zu erleben, macht glauben, dass der letzte Tag der Popmusik angebrochen und Johnny Dowd als Bote der Apokalypse erschienen ist. Wahrscheinlich ist er gekommen, um uns für die Sünden von Eminem zu strafen.“ Don Yates, Radiokommentator aus Seattle, erfindet das nicht gänzlich abwegige Etikett American Gothic Beatnik Blues.
On Tour
27.03. Hamburg – Knust 28.03. Berlin – Deutsches Theater 29.03. Halle – Objekt 5
Diskografie Wrong Side Of Memphis (1998) Pictures From Life's Other Side (1999) Down In The Valley (2000) Temporary Shelter (2000) Johnny Dowd Live (2001) The Pawnbroker’s Wife (2002) Wire Flowers: More Songs From The Wrong Side Of Memphis (2003) Cemetery Shoes (2004) Live At The Night & Day Cafe, Manchester, UK (2005) Cruel Words (2006)
|
Thematisch ist sich Dowd in seinem bisher kurzen und späten Schaffen treu geblieben. Auch auf Cruel Words besticht er als scharfsichtiger Chronist gesellschaftlicher Desintegration und privater Katastrophen. In Praise God beobachtet ein Heimkehrer aus dem War On Terror die Frauen seiner Heimatstadt. Er sitzt dabei im Rollstuhl. Ob World Of Him, Poverty House oder Final Encore – Krieg und Tod, Armut und Entfremdung sind die beherrschenden Themen des Albums. Dowds Housewives (und deren Männer) sind wirklich desperate. Dabei kommt das Drama ihres Lebens umso mehr zur Geltung, wie die Musik überrascht. Otis Redding, Alice Coltrane, Sun Ra, Devo und Pere Ubu hat Dowd bis jetzt gerne als wichtige Einflüsse genannt. In der letzten Zeit muss er dazu wieder verstärkt James Brown aufgelegt und Abwechslung bei Black Sabbath gesucht haben. Cruel Words ist Dowds Version von Funk und Hardrock. Und bietet ein Wiederhören mit Sally Timms und Jon Langford von den Mekons – laut Dowd “die beste Rock ’n’ Roll-Band weltweit.“ Sein jüngster Streich klingt aus mit Chuck Berrys Johnny B. Goode, das mit Iron Man von, genau, Black Sabbath gekreuzt wird. Irritierend und überzeugend in einem Atemzug. Auch für Robert Sandall und Mark Russel, die als Moderatoren des Mixing It-Programms von BBC Radio 3 eine der letzten Bastionen experimentellen Musikradios halten. Für Anfang April haben sie Dowd in die legendären Maida Vale Studios des Senders eingeladen. Passendes Geschenk für den Möbelpacker und Künstler, der am 29. März seinen achtundfünfzigsten Geburtstag feiert. Um sich gleich nach seiner kurzen Tour wieder in die Arbeit zu stürzen. Gemeinsam mit Jim White, eigenwilliger Songwriter aus Pensacola, Florida, wird er schon im Herbst das nächste Album veröffentlichen. Arbeitstitel: Hellwood, Konzerte in Europa inklusive. Wo nimmt der Mann bloß die Zeit her?