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März 2006
Christina Mohr
für satt.org


We are Scientists: With Love and Squalor
Virgin USA, EMI 2006

Cover
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Infadels: We are not the Infadels
Wall of Sound, Rough Trade 2006

Cover
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We are Scientists vs.
(We are not the) Infadels

Ok, ok, ich bin schnell zu begeistern, das gebe ich zu. Und vielleicht ist es tatsächlich etwas vorschnell, im ersten Drittel von Nullsechs schon die Anwärter auf Topplatzierungen in den Jahresendcharts auszurufen.
Dennoch – und nicht nur wegen des zwingenden Wortspiels – sind We are Scientists und Infadels, bzw. (We are not the) Infadels zumindest im Moment die Bands der Stunde. Komische Formulierung? Nun ja, sehr viele Bands werden zur Zeit auf Grund ihrer ersten Platten geliebt und gefeiert: Maximo Park, Kaiser Chiefs, Arctic Monkeys, Art Brut – und ziemlich sicher werden nicht alle zu den Rolling Stones ihrer Generation. Was alle diese Bands und auch We are Scientists und Infadels eint, ist die paritätische Liebe zu Rock und Dancefloor, zur Stromgitarre und zu Synthesizern. Das ist prima, denn so können sich sowohl versierte Discotänzer als auch Luftgitarrenschwinger gleichzeitig auf demselben Dancefloor austoben. Elektropop-Wave als vereinigendes Moment, wie schön.

Infadels sind fünf East-Londoner namens Bnann, Matt, Alex (Sohn des Yes-Drummers Bill Bruford), Richie und Wag, die sich in den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer Band namens Balboa formierten. Balboa wurschtelte glücklos vor sich hin, bis sich die Musiker entschlossen, zu einer Gang namens Infadels zu werden – das brachte die Wende, ihre Debutsingle von 2003 Leave Your Body, die sie auf ihrem eigenen Label Dead at Thirty veröffentlichten, erfreute bereits sehr viele Menschen in UK. Unter anderem auch John Peel, der die Single spielte und schnell wurde klar, daß aus Infadels etwas Größeres werden kann. Das Label Wall of Sound brachte nun das erste Album (We are not the) Infadels heraus und sorgte damit für eine der ersten positiven Überraschungen des jungen Jahres 2006.


Infadels in Deutschland unterwegs:
6.4.06 Stuttgart, Schocken
7.4.06 München, The Atomic Café
8.4.06 Wiesbaden, Schlachthof
Köln, Underground
Hamburg, Molotow
12.4.06 Berlin, White Trash

Infadels spielen einen euphorisierenden Mix aus Postpunk, Wave, Funk und Elektronik und hören sich an wie Radio 4 mit ein bißchen mehr Wumms. Infadels selbst führen die Talking Heads, Steve Reich, The Stooges und die Rolling Stones während ihrer Miss You-Phase als Haupteinflüsse an und gehen mit diesem selbstgewählten Erbe unverschämt souverän um - schon der erste Song der Platte, Love Like Semtex mit seinem treibenden, tanzbaren Rhythmus und dem catchy Refrain, den man nach dem ersten Hören nicht mehr vergißt, ist ein perfekter Hit. Can't Get Enough ist eine wilde Gitarre-Elektronik-Schlacht, die nur auf der Tanzfläche ausgefochten werden kann und Song Nummer drei, Topboy zeigt, daß sie die feinste Englandpop-Referenzschule besucht haben: die dramatischen Momente und die Vocals erinnern an Fun Boy 3, Terry Halls Band nach den Specials, die düster und lustig zugleich waren – eine seltsame, sehr britische Mischung. Girl That Speaks No Words erinnert angenehm an New Order und Bernie Sumners Seitenprojekt Electronic; Jagger `67 läßt die Maschinen durchdrehen, hysterisch und sexy wird skandiert: „I – I want you / with your twisted hair“ und erst beim sechsten Stück nehmen Infadels das Tempo ein wenig raus, eine Erholungspause muß ja auch drin sein. Murder That Sound mit seiner sanften und eingängigen Melodie bringt Infadels in die Nähe von Phoenix und Röyksopp – daß Infadels diese Bands offenbar ganz gern mögen, hört man auch bei Sunday, einem dahinfließenden Song mit nahezu französischer Leichtigkeit, die man den wilden Eastenders gar nicht zugetraut hätte.
Reality TV geht dann wieder mit reichlich NRG zur Sache und ans Ende der Platte haben Infadels eine Überraschung gepackt, Stories from the Bar („I dreamt I was a letter telling stories from the bar …“) klingt vordergründig zwar soft und simpel, basiert aber auf einem vertrackten Rhythmus auf, der ihren Vorbildern Talking Heads zur Ehre gereicht.

We are Scientists, in Deutschland gerade als Support der brit-award-gekrönten Kaiser Chiefs unterwegs, sind smart: Bassist Chris Cain, Gitarrist Keith Murray und Schlagzeuger Michel Tapper verstecken sich auf dem Cover hinter süßen Kätzchen und häufen dadurch sofort Tonnen von Vorschußsympathien auf sich (wer noch süßere Kätzchen, Hundchen oder Babylizards sehen will, klicke sich bitte nach www.cuteoverload.com). Doch was machen sie nach dem Fotoshooting mit den Miezen? Tierversuche? Wer weiß, schließlich pflegen sie einen eher seltsamen Humor, aufs Cover schreiben sie „www.wearescientists.com is not your shrink, it's not your friend, it's your boss, and you need to start treating it like one.“ Na dann mal los:

WaS starten auf With Love and Squalor mit ihrem stärksten Song, dem „Oh-Oh-Oh-Oh-Oh“-Hit Nobody Move, Nobody Get Hurt, der rockiger ist als die ganze Infadels-Platte, aber durch das nervöse Drumplay sofort zum Tanz auffordert – noch dazu verbunden mit leicht mitzusingenden Lyrics: „My Body is your Body / I won't tell anybody / If you wanna use my body / GO FOR IT!“
Auch das zweite Stück, This Scene is Dead mit forderndem Baß und jeder Menge Post-Punk-Funk-Referenz ist supertanzbar, doch spätestens bei Inaction bricht sich der ROCK mehr und mehr Bahn, wie auch bei Callback oder Cash Cow. Can't Lose fällt aus dem Uptempo-Rahmen heraus, hier wird langsamer Ska-Rhythmus von flirrenden Gitarren durchbrochen – musikalisch mit das interessanteste Stück der Platte. The Great Escape (Hommage an Blur?) treibt die Massen wieder auf den alternativen Tanzboden, zackiger Rhythmus mit Vocals-zum-Hände-über-dem-Kopf-schwingen: „I got a great Idea“ rufen sie – wie es sich für Scientists gehört!

Franz Ferdinand sind unüberhörbare Vorbilder von We are Scientists, mit ihnen teilen sie die Vorliebe für schneidige Rhythmen und streng geometrischen Songaufbau, doch WaS sind nicht ganz so elegant und leichtfüßig wie FF. Vielleicht, weil sie mit Bon Jovi aufgewachsene Amerikaner sind, wie sie Sandra Grether im Intro-Interview verrieten.

Und wer hat nun gewonnen? Sollte hier nicht eine künstliche Rivalität/Konkurrenzsituation aufgebaut werden? Tja … Infadels bekommen wegen der abwechslungsreicheren Platte ein paar Punkte mehr – heute jedenfalls!