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März 2006
Christina Mohr
für satt.org


Merz: Loveheart
Grönland 2006

Cover
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John Vanderslice: Pixel Revolt
Barsuk Records 2006

Cover
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Merz:
Loveheart

John Vanderslice:
Pixel Revolt

Diese beiden Platten möchten, dass ihnen zugehört wird, sie erfordern ein klein wenig Einfühlungsvermögen und ein offenes Ohr für leisere Töne – dafür revanchieren sie sich höflich und werden zärtliche Freunde und Begleiter weit über den bevorstehenden Frühling hinaus. Vielleicht wird sogar was Festes draus, das liegt ganz an der Bereitschaft der Hörer/innen. Sowohl Merz als auch John Vanderslice sind Solokünstler, die zu liebenswerter Verschrobenheit neigen und beiden fehlen völlig die Eigenschaften, die jemanden wie, sagen wir, Adam Green oder Ryan Adams zu Stars und sexy Publikumslieblingen machen. Weder Merz noch Vanderslice sehen besonders gut aus, noch fahren sie geradlinig auf Schienen, die stilistische Einordnungen erleichtern würden.

Conrad Lambert aka Merz war sogar schon mal fast ein Star. 1999 veröffentlichte er seine erste Platte und wurde von Leuten wie Jarvis Cocker und Coldplay hochgelobt, auch beim Glastonbury-Festival trat er auf. Doch auf einmal verschwand Merz, ohne „tschüß“ zu sagen. Nur wenigen Liebhabern seines verspielten Folkpops (ha! Einordnung doch möglich!) blieb er in Erinnerung. Jetzt ist Merz ohne Vorankündigung wieder da und ausgerechnet Herbert G.'s Grönland-Label bot ihm eine neue Heimat (ich werde keineswegs anfangen, über Grönland herzuziehen, immerhin ist im letzten Jahr die hübsche Psapp-Platte dort erschienen. Deshalb verzeihe ich Grönland sogar die unerträglichen AK4711, oder wie sie auch heißen mögen). Jeder einzelne Song auf Loveheart ist eine stille Schönheit, die Platte ist voller Perlen, gefischt aus dem Meer der Melancholie, auf dem Conrad Lambert segelt und nur durch seinen britischen Humor vor dem Untergang bewahrt wird. Lambert/Merz liebt Folkmusic der sechziger Jahre ebenso wie genuin englischen Pop; schon im ersten Song, Postcard From A Dark Star verbinden sich anheimelnde Pianoklänge, federleichte Breaks und ein Spinett, das ein wenig an Golden Brown von den Stranglers erinnert. Elektronische Einsprengsel und synthetische Beats (jetzt nicht an Tanzmusik in irgendeiner Form denken!) machen Loveheart zu einer zeitlosen, im besten Sinne unmodischen Platte. Das leichtfüßige Butterfly ist ein Kleinod voller Sonne, Liebe und Wärme, das man jederzeit als verspäteten Valentinsgruß verschicken kann:

BUTTERFLY

You are the one that I can’t pin down
I see you when I go into town

Butterfly

I see you move from blossom to bloom
I can’t catch up
I’m not as swift as you

Butterfly

You’ve no agenda
You’re just destined to be
That’s why I’m attracted
Because you seem so free

Butterfly

I have a heart which tells me to leave you be
Your wings will be snipped one day
But not by me

Butterfly

Mit britischem Understatement und der Weisheit desjenigen, der die vermeintlichen Verlockungen des Stardoms schon kennt, bestickt Merz seine Songs mit allerlei Zierat, ohne dass die Melodie in den Hintergrund rückt, oder die melancholische Grundstimmung verloren geht. Einer der (vielen) Höhepunkte ist Warm Cigarette Room, das mit elektronischem Fiepen und Blubbern beginnt und doch zu einer Ballade wird; schönster Songtitel: At Night I Dream Your Bedroom's Crammed With Ducks.

John Vanderslice war kürzlich mit Death Cab for Cutie in Deutschland unterwegs, im letzten Herbst mit Nada Surf, er dürfte also fleißigen Konzertgängern durchaus ein Begriff sein. Vanderslice genießt den Ruf, ein manischer Frickler und Analog-Freak zu sein, gut möglich also, dass er sich das Leben schwerer macht als nötig.
Er lebt in San Francisco und betreibt dort ein analoges Tonstudio namens „Tiny Telephone“, wo auch die bereits erwähnten Nada Surf und Death Cab schon Songs aufgenommen haben – keine Frage, dass „JV“, wie ihn seine Fans nennen, dort am liebsten alles selber macht. Für ihn ist das Studio ein Labor, in dem jeder Ton akribisch und obsessiv auf seine Nutzbarkeit untersucht wird. Wie Merz gelingt es auch Vanderslice, traditonelle Musikstile wie Folk und Blues mit modernen technischen Spielereien zu verquicken, so dass der Begriff „Singer/Songwriter“ auf beide Musiker nicht zutreffen mag. Die Liedstrukturen sind durchaus dem sehr handgemachten, naturbelassenen Songwriting verbunden: Stücke wie Letter to the East Coast oder New Zealand Pines mit ihrer anskizzierten, doch unverhohlenen Wehmut dürften auch Bewunderern von Nick Drake oder den Buckleys gefallen. Mein Lieblingsstück von Pixel Revolt ist Exodus Damage mit angedeutetem Hymnuscharakter à la früher Achtzigerjahre-Wavepop, ohne dessen Düsterkeit, aber mit angemessener Verzweiflung; Textprobe: „dance dance revolution / all we're gonna get / unless it falls apart / so I say: go go go / let it fall down / I'm ready for the end“.

Pixel Revolt ist Vanderslices sechstes Album, wenn man die Compilation Five Years nicht mitzählt, ein eigener Stil ist nicht mehr zu verhehlen, JV ist immer mehr zu John Vanderslice gereift. Bleibt der Wunsch, dass Vanderslice bald eine Tournee mit sich selbst als Headliner vergönnt ist – aber wer weiß, vielleicht wäre ihm das eher unangenehm.