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April 2006
Matthias Michel
für satt.org


Current 93:
Judas as Black Moth

Sanctuary 2005

Cover
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Nurse With Wound:
Livin' Fear of James Last

Sanctuary 2005

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Current 93 | Nurse With Wound

Banale Feststellung gleich zu Beginn: Zu Current 93 und Nurse With Wound muß man entweder wenig bis gar nichts sagen – oder aber sehr viel. Besonders Current 93 betreffend ist mir persönlich noch niemand begegnet, der auf diesen Mikrokosmos lediglich mit Interesse, doch ohne weitere innere Teilnahme reagiert hätte (wie man in der Regel mit gut gefundener Musik halt so umgeht, richtig beinharter Fan ist man ja in den meisten Fällen doch nicht).

Im Herbst letzten Jahres erschienen gleichzeitig sehr empfehlenswerte Werkschauen dieser Kollektive/Projekte (die Bezeichnung "Band" paßt nicht recht auf diese Gebilde, deren Zentren jeweils ein kreativer Kopf einnimmt, quasi die Verkörperung der allem zugrundeliegenden Idee, der wechselnde Musiker um sich versammelt), beide als Doppel-CD zum kleinen Preis, beide Anwärter auf den Plattentitel des Jahres. In der Art, wie jeweils zusammengestellt wurde, zeigen sich allerdings erhebliche (programmatische?) Unterschiede, wenngleich beide Auswahlprogramme sich dankenswerterweise nicht an die Chronologie der Erstveröffentlichungen halten. Bei NWW können auch mal vierzehn Jahre zwischen zwei Tracks liegen, ohne daß es zu einer Zerfaserung kommt, die Kompilation vielmehr wie aus einem Guß klingt: l'expérience pour l'expérience lautet einst wie jetzt die Devise.

"Joy in the House of Dada!!!!" heißt es auf der Rückseite von Livin' Fear of James Last, und das ist schon das richtige Motto, weil Dada zwar immer auch lustig war, aber oft genug eben auf eine beklemmende Art. (Über einen nicht-dadaistischen Meister der Verstörung, Franz Kafka, kursiert die Anekdote, daß er beim Vorlesen seiner Schauerstücke selbst von heftigen Lachanfällen geschüttelt worden sei.) Den Bezug auf die surrealistische, intellektuell-versponnene Avantgarde des kurzen 20. Jahrhunderts gibt es bei NWW seit dem ersten Album (1979): der Albumtitel zitiert in englischer Übersetzung mit Lautréamont einen der Kirchenväter des Surrealismus: Chance Meeting on a Dissecting Table of a Sewing Machine and an Umbrella. Und bei dieser Referenz kommt neben dem künstlerischen noch ein ganz wesentlicher Aspekt allgemeinerer Art ins Spiel, der mir an NWW (und mehr oder weniger an der ganzen ersten Generation der englischen elektronischen Musik) immer schon sehr sympathisch war, nämlich die Betonung des Individuums, nicht genormter Kollektive. Um an einen oft zitierten Satz des Surrealisten Francis Picabia anzuknüpfen, wonach der Kopf rund sei, damit das Denken die Richtung ändern könne: Es wäre doch ganz amüsant, würde einigen Teilen der Gothic-/Industrial-/Neoheiden-/Uniformträgerszene neben ihrem inneren Quadratschädel auch ein äußerer wachsen.

Statt nach Märschen beziehungsweise nach mystischem Quatsch brabbelnden Jungfrauen zu klingen, reihen sich manche NWW-Kompositionen bestens in die Nachkriegsmoderne der klassischen Musik ein – und wären wie geschaffen für Neuvertonungen von Horrorfilmklassikern der siebziger Jahre wie Das Omen oder Der Exorzist – mehr als ein Stück böte eine prima Untermalung für Linda Blairs Spinnengang treppabwärts.

Handelt es sich im Falle NWWs um einen die gesamte Schaffenszeit umschließenden Werküberblick, so wurden die C93-Stücke fast ausschließlich zwischen 1992 und 2005 aufgenommen, lediglich zwei stammen aus den Jahren 1986 bzw. 1988. In der Tat handelt es sich bei Judas as Black Moth bereits um die dritte Retrospektive und deckt sich, was die neueren Tracks angeht, in großen Teilen mit Calling For Vanished Faces (1999, ebenfalls 2CD) – aber wäre es nicht völlig absurd, ein solches Adjektiv hier zu verwenden, könnte man sagen, es ist die kommerziellste der Kompilationen. Durch die zeitliche Auswahlbeschränkung versammelt Judas automatisch die problemlos hörbaren, harmonischen und songorientierten Arbeiten Tibets, die spätestens seit der großartigen Thunder Perfect Mind dominieren. Ganz frühe Stücke, die vor allem aus Schleifen sakraler gregorianischer oder buddhistischer Vokalmusik und Noise bestehen, fehlen hier völlig, ebenso die mittleren aus C93s "Beschwörungsphase" (ich nenne die einfach mal so und meine vor allem die Art des Gesangs vieler Stücke). Eine Reduzierung der Doppelbödigkeit ist allerdings nicht mit dieser Entwicklung verbunden, textlich sowieso nicht – hier sind die Verschiebungen hauptsächlich inhaltlicher, nicht grundsätzlicher Art – , und musikalisch wird mehr Wert auf das Subtile, nicht auf das Dickauftragen gelegt. Ein Beispiel: Judas ist dem Andenken des 2004 verstorbenen John (Jhonn) Balance gewidmet, und jeder, dem die Bedeutung dieses Verlusts noch nicht recht klar ist, sollte sich einmal "Lucifer over London", das Stück mit Black Sabbaths "Paranoid"-Gitarrenriff, konzentriert anhören – es ist einfach unglaublich, wie der Coil-Sänger die zweite Stimme gestaltet: zunächst stoisch begleitend, dann immer stärker individuell phrasierend, schließlich gegen den Rhythmus antretend.

Die Zusammenarbeit mit Balance reicht bis in die Anfangsjahre von C93 zurück, die mit Nick Cave blieb bisher eine einmalige Sache, was schade ist, denn "All The Pretty Little Horses" ist besser als vieles, was Cave in den letzten Jahren gemacht hat, und zeigt, daß er nicht nur ein großer Sänger, sondern auch ein großer Summer ist. Das Schwesterstück "All The Pretty Little Horsies" interpretiert Shirley Collins, eine Ikone der britischen Folkszene der Sechziger, die Anfang der Neunziger von David Tibet wiederentdeckt wurde. In ähnlicher Weise, aber viel medienwirksamer (und wohl auch medienbewusster) kam es vergangenes Jahr zu der Wiederbelebung Vashti Bunyans durch Devendra Banhart, und interessanterweise zitiert in der Covergestaltung Banharts Cripple Crow dieselbe Platte wie schon C93s Earth Covers Earth, nämlich The Hangman's Beautiful Daughter der Incredible String Band: die ganze Bande im Kinderladen-Style inklusive Wurzelsepp-Filzhüten und Webkutten. Banhart steuert übrigens auch einen Eintrag für die Gästebuchabteilung des Judas-Booklets bei, ebenso Antony (der von David Tibet mehr oder weniger entdeckt wurde), Will Oldham und der alte Verbündete Marc Almond. Und da diese drei Ausnahmesänger neben weiteren auf dem demnächst erscheinenden neuen Album zu hören sein werden, darf man sehr gespannt sein – nicht nur auf die Platte selbst, sondern auch, wie es weitergeht mit C93. Wird der (berechtigte!) Antony-Hype David Tibet auf das Cover der Spex verhelfen? Zum Glück wohl kaum.

Wie gesagt, seit mehr als zwanzig Jahren betreibt David Tibet das Projekt Current 93 nun schon und ist in dieser Zeit zwar zu einer Institution geworden, aber nicht zu einer Ikone erstarrt, sondern immer neugierig und offen für die verschiedensten Einflüsse geblieben. Liebenswert an C93 ist ja nicht zuletzt, daß durch all die Richtungswechsel, die im Laufe der Zeit auf Tonträgern verschiedenster Art dokumentiert wurden, eine Indie-Nostalgie weitgehend abgewehrt wird, wie man sie bei alten Depeche Mode- oder Cure-Fans oft genug antrifft.

Das Schlußwort bleibt Marc Almond überlassen, denn wunderbarer kann man es nicht ausdrücken: "Current 93 is a collective that draws moths to a flame; not to be burnt but to be illuminated. I'm proud to be one of those moths." Und da hat der alte, aber ewig junge Torchsinger natürlich recht.