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April 2006
Phil Shoenfelt
für satt.org


Nikki Sudden bei amazon

Nachruf zum Tod
von Nikki Sudden
(195Juni 2006)

übersetzt von Ní Gudix, Berlin


Nikki Sudden

Nikki Sudden
Foto © Michael Witte

Nikki Sudden, Gründungsmitglied der legendären englischen Punkband Swell Maps und später der Jacobites, ist am vergangenen Sonntag, dem 26. März, in New York City tot aufgefunden worden. Er wurde 49 Jahre alt. Mitte der 70er Jahre hatte er zusammen mit seinem Bruder Epic Soundtracks Swell Maps gegründet; die Band war berühmt gewesen für ihren spielerischen und avantgardistischen Zugang zur Punk-Ästhetik. Ihre erste Single "Read About Seymour" war 1978 erschienen und sofort auf Platz 1 der britischen Independent-Charts gestürmt; etwa 25000 Stück wurden davon verkauft. Der britische Radiomoderator John Peel war ein großer Swell-Maps-Fan gewesen und hatte oft ihre Songs aufgelegt. Bevor die Band 1980 auseinandergebrochen war, kamen noch einige weitere Nummer-Eins-Singles heraus. Dann hatte sich Nikki mit dem Sänger und Gitarristen Dave Kusworth zusammengetan und die Jacobites gegründet. Er hatte – vielleicht etwas zu intensiv - das Rock'n'Roll-Motto "Live Fast, Die Young" gelebt und sich zum rast- und ruhelosen Rock'n'Roll-Banditen stilisiert; seine Helden waren die New York Dolls, und besonders deren Gitarrist Johnny Thunders wurde zu seinem musikalischen Stichwortgeber. Die folgenden Jahre war er kreuz und quer über den Globus mäandert, hatte heute in Los Angeles und morgen in Tokio gespielt – seine Touren schienen endlos zu sein. Er war unglaublich energiegeladen und lebensbejahend, seine Begeisterung für die Musik und den Rock'n'Roll ließ nie auch nur eine Sekunde lang nach. Und dabei wurden seine Touren nicht etwa von großen Plattenfirmen, Managern oder Agenturen organisiert, nein – Nikki machte das alles selbst, er verfügte über ein riesiges Netzwerk von Kontakten und Freunden auf der ganzen Welt, und auf diese Weise buchte er sich Konzerttourneen zusammen, bei denen jeder andere normale Mensch früher oder später vor Erschöpfung kollabiert wäre. Freunde konnten ihn in irgendein Provinzkaff in der amerikanischen Pampa einladen und Nikki kam, brachte seine Klampfe mit und spielte mit jedem, der ein paar seiner Songs zumindest so gut kannte, daß er ihn begleiten konnte. Und danach ging's weiter zum nächsten Konzerttermin, sei der nun in Berlin, Prag, London, Moskau, New York oder tief in der Wüste von Idaho. Ob sein Publikum nun aus 10 oder aus 500 Leuten bestand, interessierte Nikki nicht – solange die Leute seine Songs liebten und begeistert mitsangen, genoß er jeden Gig. Bei seinen Platten war es dasselbe: wenn ihn die Plattenfirmen nicht wollten, gab er kurzerhand selbst eine CD heraus und promotete und verkaufte sie weltweit in seinem Beziehungsnetzwerk. Dabei managte er alles selbst und behielt bei allen geschäftlichen Dingen den Überblick, und darin war er für mich wirklich einmalig – er war ein unglaublich aktiver und vitaler Künstler, der nicht nur Musik machte, sondern auch noch imstande war, alles selbst zu verwalten, was verwaltet werden mußte. Nikki war ein wahrer Musiker der Subkultur, was umso deutlicher zutage tritt in dieser Zeit der gesichtslosen Musik-GmbHs, die sich alle möglichen üblen Marketingtricks einfallen lassen, um ihren langweiligen, sterilen, zurechtgeklonten Marionetten so etwas wie "street credibility" zu verpassen. Nikki war keine von diesen künstlichen Hupfdohlen, er war echt, er war ein einzigartiger Entertainer, der das Herz zu rühren vermochte, und deshalb wird er nun von Tausenden Fans auf der ganzen Welt schmerzlich vermißt.

Seit dem 28. Februar hatte sich Nikki auf Amerikatournee befunden. Er hatte in New York begonnen, war dann über den mittleren Westen nach Nebraska, Iowa und Missouri gejettet, um am 11. März erneut in NY zu spielen. Weiter ging es über Chicago und Wisconsin noch mal nach Missouri, bevor er zum dritten Mal nach New York düste, um dort im Fat Baby mit den Bruised Poets, einer Band aus der Gegend, aufzutreten. Dieser aberwitzige Tourplan klingt, als wäre er einem Hit von Chuck Berry entsprungen - für Nikki war das der Normalzustand. Zu Jahresbeginn hatte er in Großbritannien, Deutschland und Irland einige Solokonzerte gegeben, dann seine Bandkollegen aus seiner Truppe The Last Bandits getroffen, um mit ihnen weiter durch Deutschland zu touren. Und all das hatte er wie gesagt selbst organisiert, nur mit der Hilfe seiner Freunde und Fans, völlig außerhalb der üblichen Verwaltungskanäle des Musikbiz.

Letzte Woche hat Nikki in New York City drei Konzerte gegeben: am 23.3. war er im Fat Baby, am 24. im Cake Shop und am Samstag, dem 25. März spielte er in der Knitting Factory seinen letzten Gig. Am 23.3. hätte sein Bruder Epic Soundtrack Geburtstag gehabt – er war unter mysteriösen Umständen am 6.11.97 gestorben. Nach seinem eigenen Gig besuchte Nikki ein Revival-Konzert der New York Dolls und traf sich anschließend mit den einzigen noch lebenden Gründungsmitgliedern der Band, David Johanson und Syl Sylvain. Die, die dabei waren, bezeugen, daß Nikki an jenem Abend müde und fertig gewirkt habe, daß er öfters eingenickt sei und wieder wachgerüttelt hätte werden müssen. Die New York Dolls waren die Band, die Nikki in ihrer Urbesetzung angehimmelt hatte – vier der sechs Bandmitglieder von damals sind inzwischen schon dem wilden Rock'n'Roll-Lifestyle zum Opfer gefallen. Was ihm durch den Kopf gegangen sein muß, als er da gestanden und dem Auftritt zugesehen hatte, kann ich nur raten. Der Gig am Samstag in der Knitting Factory war allerdings dennoch ein voller Erfolg, und Nikki und die Bruised Poets hatten danach noch bis in die frühen Morgenstunden hinein weitergefeiert. Ungefähr um halb fünf morgens waren die anderen nach Hause gegangen, doch Nikki, treu bis ins Mark, war noch sitzengeblieben, um so viel Rock'n'Roll-Energie wie nur irgend menschenmöglich aus dem Hier und Jetzt aufzusaugen. So war es in der ganzen letzten Woche gegangen: zu viel Alkohol, zu viele Zigaretten, zu viel Party, zu wenig Schlaf. Nikki lebte so schon seit Jahren, und mir war er stets zu zäh und zu gerissen erschienen, um sich von dieser Art Leben unterkriegen zu lassen. Der Kerl war ein Überlebenskünstler, fast schon unsterblich; er tanzte zwar ständig auf der Klippe, doch kurz vor dem Absturz hatte er bis jetzt noch immer die Bremse gezogen. Diesmal jedoch schaffte er das leider nicht mehr. Etwa um halb neun war er zurückgekommen in die Wohnung von Claudine, einer guten Freundin, bei der er übernachtete, und sie hatte ihm die Tür geöffnet. Sie gab später an, daß er auf sie ebenfalls ziemlich kaputt und verkatert gewirkt habe, aber das war ja bei Nikki nichts Außergewöhnliches – wie Keith Richards, sein zweites großes Vorbild, verkörperte auch Nikki den Look des "pittoresken Kaputtniks" perfekt. Während Claudine wieder ins Bett gekrochen war, war Nikki in die Küche gegangen, um sich ein Frühstück zu machen (wahrscheinlich Toast mit Linsen, wie ich ihn kenne). Als Claudine einige Stunden später aufstand und in die Küche kam, fand sie ihn dort, neben einem aufgeschlagenen Buch und dem zur Hälfte aufgegessenen Frühstück, tot auf dem Boden liegen; aus seiner Nase rann Blut. Woran genau er gestorben ist, wissen wir noch nicht; es können Drogen gewesen sein, er kann aber auch eines natürlichen Todes gestorben sein insofern, als sein Körper ihm nun einfach die Rechnung für die wahnsinnige Hektik der letzten Jahre präsentiert hatte. Sicher ist auf jeden Fall, daß er ein Lebenswerk hinterläßt, das in Sachen Inhalt und Wärme gleichermaßen zauberhaft ist, und einen legendären Ruf, der in Zukunft nur größer werden kann. Auch hinterläßt er weltweit Myriaden von Freunden und Verehrern sowie seine Eltern, die am Boden zerstört sind, da sie nun von ihren beiden Söhnen vorzeitig Abschied nehmen mußten.

Nikki Sudden, Freund, Inspirator, Lehrer, Schamane, echtester aller echten Rock'n'Roll-Helden – "man ist erst tot, wenn man vergessen ist". In diesem Sinne: mögest du lange unter den Engeln weiterleben und deine Musik als Inspirations- und Energiequelle für uns nach unten senden! Adieu, mein Freund.

Phil Shoenfelt, Prag den 28. März 2006.

Anmerkung der Übersetzerin: auch ich kannte Nikki, da er öfters im Friedrichshainer Buch- und Eventladen East of Eden in Berlin aufspielte. Entsprechend traurig über seinen Tod bin ich. Ní Gudix, 31.3.06