Anzeige: |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |
Die Erwartungshaltung Blumfeld gegenüber ist ja auch nicht völlig unberechtigt. Blumfeld sind noch immer (und wahrscheinlich auch für immer) die Referenzgröße im deutschsprachigen Pop, an ihnen muß sich messen lassen, wer sich mit deutschen Texten auf anspruchsvolleres Terrain begibt. Mit Ich-Maschine und L'Etat et Moi eröffneten Blumfeld keine neuen popmusikalischen Kapitel, sondern gleich eine ganze Enzyklopädie. Dazu kommt Blumfelds sparsamer Output (in 16 Jahren Bandgeschichte ist Verbotene Früchte erst die sechste Platte), der per se als Qualitätsgarantie betrachtet wird: wenn die Band schon mal was veröffentlicht, kann das ja kein Mist sein, kein nur so mal zwischen zwei Tourneen rausgerotzter kreativer Überschuß. Deshalb wird jedes Wort und jeder Ton auf die Goldwaage gelegt, hin- und herinterpretiert. Blumfeld standen von Anfang an im Ruf, eigentlich viel mehr als „nur“ Pop zu sein, sondern Kunst, Diskurs, Literatur mit Indierockbegleitung. Diesen Ballast schultert zumindest Jochen Distelmeyer ziemlich locker, seine Mitmusiker haben damit offensichtlich mehr Probleme: bis auf Gründungsmitglied Andre Rattay wechselt die Besetzung ständig, Michael Mühlhaus, der zu Jenseits von Jedem-Zeiten Baß spielte, ist nicht mehr dabei, dafür sind jetzt Lars Precht von Veranda Music und Vredeber Albrecht (Commercial Breakup) mit an Bord.
Und nun Verbotene Früchte. Mit seiner Naturbezogenheit und dem Coverartwork (Illustrationen: Maria Sibylla Merian) das provokanteste Blumfeld-Album seit langem – Tiere! Raben, Katzen, Amseln, Mondfische! Dagegen sind tausend tiefe Tränen ja ein Klacks, ach was, Hardcore. Den Nörglern rufe ich entgegen: der Schritt in die Natur zeichnete sich doch schon auf der letzten Platte ab! Denkt nur an das Picknickfoto auf dem Backcover von Jenseits von Jedem – schon damals tummelte man sich fröhlich im Freien! Und Herr D. ist eben noch ein Weilchen draußen geblieben, ein wenig spazieren gegangen und dachte sich dabei: „Hey hey, die Natur hat auch ganz schön was zu bieten. Fahrt Ihr ruhig schon mal zurück in die Stadt, ich schau' mir derweil noch die Apfelbäume an. Wer weiß, was ich damit noch anfangen kann.“ Eskapismus, Realitätsferne wird Blumfeld vorgeworfen, und daß ihre Schrulligkeit sie nun vollends zur Bedeutunglosigkeit verdammt – aber: mit Verbotene Früchte kommen Blumfeld den Hörern so nah wie nie, sie sind so klar wie nie, „ …Und singe, was ich seh“ (Schnee). Natürlich wissen Blumfeld, daß eine Platte, die sich zur guten Hälfte um Tiere, Pflanzen und gefallenen Schnee dreht, aus dem diskursrockigen Rahmen fällt. Verbotene Früchte ist das Album der alten, klaren Metaphern. Siehe/höre Apfelmann: selbstverständlich ist der Apfel die mythenbefrachtete Frucht Nummer eins, ich sag' nur Paradise Lost. Umso lässiger, wenn man über ein Eddie-Cochran-Riff einen Text über Äpfel und ihren Züchter schreibt, der genau das meint, was er sagt: „Er will für jeden Baum das Beste / So tut er was er kann / Er hegt den Stamm und pflegt die Äste / Er ist: der Apfelmann“ Wer will, kann gerne eine zweite Ebene mit reintun. Mir als Hessin stößt nur auf, daß die Hamburger Fischköppe in ihrer Hymne an den Apfel leider vergessen haben, daß man auch Ebbelwoi aus der verbotenen Frucht machen kann! Doch Blumfeld verlieren bei ihrer Wanderung durchs Gebirg' nie den Blick fürs große Ganze, Distelmeyer läßt sein lyrisches Ich nicht im Wald stehen. Das beweist die Single Tics*, die kämpferisch und voller Elan den gesamtdeutschen Mist erfaßt: „Andre geloben mehr Demokratie / Problem ist nur, keiner glaubt noch an sie / die Sieger schreiben Geschichte / Ich sing meine Gedichte / Und mach mir Sorgen wie nie“ Klingt banal? Große Problemstellungen erfordern eine einfache Sprache!
Gern übersehen wird auch Blumfelds Humor, der sich zum Beispiel im gesunden Größenwahn Distelmeyers ausdrückt, der nicht nur Anrufe vom lieben Gott bekommt („Ich frag, was wollen Sie denn?“/Strobohobo), sondern in Tics auch noch zum Gott wird: „Später, wenn ich in meinen Wolken sitze / In meinen Sphären aus Schall und Rauch / Schlage ich Funken, schleudere Blitze / Und meinen Donner grollen lass ich auch.“ Blumfelds Werk nimmt die eigenen Fäden immer wieder auf; Songs wie Strobohobo (eine Ode an den Buchstaben „O“), Tics und das achtminütige Der sich dachte sind wortreiche dylaneske Epen wie Jenseits von Jedem oder So lebe ich, aber nicht nur Dylan, auch die Beatles sind wichtige Wegmarken für Blumfeld: so erklingt im Song Schmetterlings Gang nicht nur eine Sitar, es werden auch „Erdbeerenfelder“ besungen. Begibt sich die MS Blumfeld auch manchmal auf seltsame Fahrt (Heiß die Segel!), verliert sich die Band doch niemals aus den Augen. Jede Platte, auch Verbotene Früchte ist in sich geschlossen (vom buchstäblichen Opener Schnee bis zum ja, Abflug Ich fliege mit Raben) und knüpft gleichzeitig an die Vorgängeralben an. Musikalisch macht die Band keine großen Experimente, mittlerweile kann man vom „Blumfeld-Boogie“ reden, diesem charakteristischen Swingen, das sich vor allem live heftig hochschaukeln kann; die Balladen sind zurückhaltend instrumentiert und das schönste Instrument ist inzwischen Distelmeyers Stimme. Songs wie Kleines Lied und April sind zeitlos, im besten Sinne, und werden mit Merians Kupferstichen auch in 100 Jahren noch ein schlüssiges Gesamtbild ergeben. Und während ich im Park sitze und den Verbotenen Früchten über Kopfhörer lausche, kommt ein Käfer geflogen und landet auf meinem T-Shirt. Würde mich interessieren, was er wohl gehört hat. |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |